Mit Charly und Stenz ins "Riesenabenteuer"

7.4.2018, 12:00 Uhr
Mit Charly und Stenz ins

© Foto: Tschapka

Die Tage sind gezählt. Der Begriff "Heimat" wird für den 24-jährigen Felix Dirsch demnächst zum Fremdwort werden. Denn sobald der junge Zimmermann am morgigen Sonntag um die Mittagsstund´ eine Pulle Schnaps vergraben hat und unter großem Hallo übers Ortsschild seines Wohnortes geklettert ist, gibt es für ihn kein Zurück mehr.

Ab jenem Zeitpunkt ist er ein "Fremdgeschriebener", ein Tippelbruder, ein Wandergeselle. Nicht einmal umblicken darf er sich nach diesem Ritual. Dann muss er sie für mindestens drei Jahre und einen Tag hinter sich lassen: Familie, Freunde, seine junge Liebe. Auf allerhöchstens 50 Kilometer kann er sich in dieser Zeit seinem Wohnort nähern, Besucher nur außerhalb des Bannkreises empfangen.

Ob´s ihm da nicht mulmig werde? Na, freilich sei ihm bang ums Herz! Doch auch wenn das Gefühl des Augenblicks "ein komisches" ist – Felix Dirsch, bekennender "Familienmensch", hat sich entschieden: Er wird auf die Walz gehen.

Seine Wohnung und sein warmes Bett tauscht er somit gegen eine Jahre währende Ungewissheit darüber, wo er demnächst schlafen und arbeiten soll. Warum er das tut? "Weil ich denke, dass es das Beste ist, was man machen kann", sagt er überzeugt. Und: "Wenn nicht jetzt, wann dann?"

In der Tat bleibt ihm nicht alle Zeit der Welt. Wer als Handwerksgeselle zum Wandersmann werden mag, der muss ledig, kinderlos, schuldenfrei und unter 30 sein. So will es auch die "Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmerer- und Schieferdeckergesellen", denen sich Dirsch angeschlossen hat – übrigens die älteste Gesellenkooperation ihrer Art.

Diese Zugehörigkeit ist seit sechs Wochen nicht mehr zu übersehen: Fesch schaut er aus in seinem schwarzen, maßgeschneiderten Cordanzug mit der passenden Weste über dem weißen Hemd, das im Fachjargon "Staude" heißt, und seinem neckischen "Deckel", den er künftig nur noch zum Schlafen und Essen abnehmen darf. Kluftschneider Arthur Capelle aus Marktredwitz hat ganze Arbeit geleistet!

Doch das Wichtigste bekam Felix von den Gesellen seiner Vereinigung, seinem "Schacht", ausgehändigt: die schwarze Ehrbarkeit, eine Art Schlips, mit dem goldenen Zunftzeichen der Zimmerer. Seither ist er einer der Ihren, seither trägt er die Tippelkluft. Sogar zum Fußballtraining geht er in Schwarz und zieht sich erst vor Ort um. So will es der Kodex.

Doch da ist noch mehr: Wenn Felix Dirsch auf sein Smartphone schaut, WhatsApp-Nachrichten checkt oder Facebook-Anfragen beantwortet, dann weiß er genau, dass auch das bald der Vergangenheit angehört. Handys seien auf der Wanderschaft nicht erlaubt, erklärt er.

Zudem müsse sein Profil aus sämtlichen sozialen Netzwerken gelöscht werden. Das heißt, "es gibt mich quasi nicht mehr", flachst der 24-Jährige.

Mindestens ebenso verpönt: ein fahrbarer Untersatz. Um von A nach B zu gelangen, habe man gefälligst seine Füße zu benutzen, lautet die gängige Tippel-Philosophie. Maximal das Fortbewegen per Anhalter sei erlaubt. Mit dem ICE von München nach Hamburg? "Geht gar nicht!", wiegelt Felix ab. Dabei wäre er auf diese Weise seinem ersten Ziel, der Insel Föhr, sehr viel schneller nahe.

Den Weg dorthin wolle er ab morgen zusammen mit "Flo" bestreiten, seinem Schweizer "Exportgesellen", der ihn einige Etappen lang begleitet. Auf Föhr angekommen, werde gleich einmal die Heimkehr, das so genannten "Einheimisch werden", eines dortigen Kollegen begossen, der bereits hinter sich gebracht hat, was dem Lösmühler noch bevorsteht...

Party ohne Ende also? Nein, das wäre die nächsten drei Jahre ganz bestimmt nicht drin, betont Felix Dirsch. Ein Mindest-Arbeitspensum sei festgelegt, Arbeitgeber und -zeiten würden in seinem Wanderbuch dokumentiert.

Nach wie vor gelte zudem: Kommt ein Wandergeselle in einen Ort, wo er sich temporär niederlassen und arbeiten möchte, so muss er zunächst an offizieller Stelle – etwa beim Bürgermeister — vorsprechen. Danach geht’s auf Herbergsuche, die mittels einschlägigem Verzeichnis bewältigt werden darf. Dort treffe man mitunter auf seinesgleichen: Rechtschaffene freie Zimmerer- und Schieferdeckergesellen, die in punkto Arbeitsstelle auch "den einen oder anderen Tipp" parat hätten, meint Felix Dirsch. "Funktioniert wie ein Buschfunk."

Was ihn sonst noch erwarte? Neue Eindrücke und Erfahrungen, gewiss. Das sei ja Sinn der Sache. "Aber wirklich wissen, was kommt, tut man nicht", gibt Dirsch junior unumwunden zu. Er jedenfalls glaubt an das "Riesenabenteuer". Immerhin habe er bislang "noch keinen getroffen, der seine Wanderschaft bereut hätte". Im Gegenteil.

Nachdem ein ehemaliger Lehrling seines Vaters Manni, dem der Zimmereibetrieb in Lösmühle gehört, unterwegs gewesen war und einem staunenden Felix aus erster Hand von der spannenden Reise berichtet hatte, stand dessen Entschluss umso mehr fest: "Ich hab´ so richtig Bock drauf!"

Also nahm Felix Dirsch zunächst als Interessent und schließlich als "Eingeweihter" an den Gesellenabenden der "rechtschaffenen fremden Zimmerer- und Schieferdeckergesellen" teil, die sich regelmäßig in Nürnbergs Ledererbräu zum "Aufklopfen" treffen. Von einer "lustigen Gesellschaft", berichtet er da. Mehr jedoch nicht. Es gelte schließlich, tradierte Geheimnisse zu wahren...

Bevor Felix Dirsch am 8. April den "Stenz" packt und seinen Charlottenburger alias "Charly" mit den nötigsten Habseligkeiten schultert, wird noch groß gefeiert. Fast 300 Gäste haben ihr Kommen zugesagt. Vielen von ihnen muss Felix dann am Sonntag gemäß Ritual die kalte Schulter zeigen. Aber sie werden ihm verzeihen und verstehen, "dass ich es ein Leben lang bereuen würde, wenn ich das nicht täte...".

 

Anmerkung der Redaktion: Als wir das Gespräch mit Felix Dirsch führten, war der noch völlig unversehrt. Das hat sich seit einem Fußballspiel geändert: Dabei zog sich der 24-Jährige eine Bänderverletzung zu. Gestern Abend bei Redaktionsschluss war sich der Tippelbruder in spe aber felsenfest sicher: "Ich gehe ab Sonntag auf die Walz!" - wenn auch mit Krücke. Ob er allerdings übers Ortsschild zu klettern vermag? "Wir werden sehen", meint er fatalistisch.

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