Mit jedem Abszess wächst auch die Verzweiflung...

14.3.2014, 15:53 Uhr
Mit jedem Abszess wächst auch die Verzweiflung...

© Bittner

Die persönliche Passion des Martin Stafflinger beginnt 1989. Ein Abszess in der Leistengegend, einer an der Innenseite des Oberschenkels. So groß, dass Stafflinger die OP als „Durchschuss“ bezeichnet.

Damals sei er jung gewesen, „da steckt man das weg“. Nässende Wunden werden kurzerhand mit Einlagen trockengelegt und vor den Kollegen verborgen. Einzig der Geruch hätte ihn verraten können. „Aber den hat angeblich niemand bemerkt.“ Über Jahre hinweg hält der Edeka-Marktleiter das Versteckspiel am Laufen.

Heute ist Stafflinger „fertig, ein Wrack“. Denn bei zwei Abszessen bleibt es nicht. Immer neue kommen hinzu, mitunter tennisballgroß – bevorzugt in den Beugenregionen des Körpers: Achseln, Leisten, Intim- und Analbereich, aber auch Kopfhaut und Nacken.

Chronischer Verlauf

Die Sache wird chronisch, unheilbar. Zwei bis vier Operationen pro Jahr sind inzwischen Durchschnitt — die kleinen, ambulanten Eingriffe nicht mitgezählt. Hinzu gesellen sich im Lauf der Zeit diverse Begleit- und Nebenerkrankungen. Bei Stafflinger füllen sie eine ganze DinA 4-Seite.

Vor allem die Psyche darbt. Es kommt zum Zusammenbruch, zur Frühverrentung. „Dabei bin ich ein Mensch, der immer etwas tun und bewegen will“, sagt der 43-Jährige. Aber irgendwann, „da ging nix mehr, gar nix mehr“. Ihm wird eine 80-prozentige Schwerbehinderung attestiert...

Martin Stafflingers Schicksal scheint kein Einzelfall zu sein. Ein Prozent der Bevölkerung leidet hierzulande unter einschlägigen Symptomen; die Dunkelziffer sei hoch, heißt es.

Und doch ist der Fachterminus „Acne inversa“ meist nur Eingeweihten ein Begriff. Einer, der viel Leid über die Betroffenen und ihre Angehörigen bringt – bis hin zu Depression und Suizidgedanken. Martin Stafflinger weiß das. Er weiß auch, dass sich viele seiner Leidensgenossen einigeln. Aus Scham. Aus Angst.

„Wenn ich eine dreiviertel Stunde beim Burgfest auf der Bierbank sitze, kann’s sein, dass ich am nächsten Tag einen neuen Abszess habe“, macht der Hilpoltsteiner das Dilemma deutlich. Eine Druckstelle, ein bisschen Schweiß, ein bisschen Reibung — das genüge.

Gehe die Sache glimpflich ab, wäre der unerwünschten Pustel mittels Salbe beizukommen. Andernfalls wird das Aufblühen des Abszesses auch von Fieberschüben, Schmerzen und großer Mattigkeit begleitet.

Doch damit nicht genug. So mancher Patient befürchtet, in seinem Umfeld Ekel auszulösen, wenn er sich im Hinblick auf die wohl erblich bedingte Autoimmunerkrankung offenbarte. Ihm selbst sei schon der Händedruck verweigert worden – aus Furcht vor Ansteckung.

„So ein Krampf!“, echauffiert sich Martin Stafflinger über ein derartiges Verhalten – und bedauert das eklatante Aufklärungsdefizit in der Gesellschaft, ja selbst unter Medizinern.

Diagnose kann dauern

„Es kann dauern, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt.“ Und während dieser Odyssee bekämen Betroffene nicht selten den Satz zu hören: „Sie müssen sich halt ordentlich waschen“. Ergo bleibe die Krankheit lieber unter Verschluss und der Betroffene am Ende meist allein.

Um dieses gängige Muster zu durchbrechen, hat sich Martin Stafflinger via Internet mit dem Saarbrückener Michael Großklos verbündet. Ihr Ziel: Deutschlandweit Selbsthilfegruppen zu etablieren, ein Netzwerk für Betroffene zu schaffen. „Aber das ist leichter gesagt, als getan“, erklärt Martin Stafflinger. Denn nach wie vor wären Acneinversa-Patienten öffentlichkeitsscheu.

In Mittelfranken hat es trotzdem funktioniert. Hier treffen sich seit 17. März 2013 zum regelmäßigen Erfahrungsaustausch zehn Betroffene mit ihren Angehörigen. Tendenz steigend. Auch dank der Selbsthilfegruppenkontaktstelle kiss.

„Erstmal auskotzen“, laute die Devise, berichtet Martin Stafflinger von den Zusammenkünften. Ob dann ein Mitglied von seiner „Sanierung“, also dem großflächigen Herausschneiden betroffener Hautareale im Rahmen einer OP erzählt; ob gewonnene Erkenntniswerte einer entzündungshemmenden Ernährung weitergereicht werden; ob es emotionale Stimmungsschwankungen oder die Nebenwirkungen von Medikamenten zu thematisieren gilt — „wichtig ist: man fühlt sich nicht mehr alleine“, untermauert Martin Stafflinger.

Klischees widerlegen

Demonstrieren würde die Gruppe auch, „dass wir kein Kollektiv von Kettenrauchern, übergewichtigen Chipsfressern und zuckersüchtigen Colasäufern sind“, wie in der Fachliteratur so oft beschrieben wird. Ja, man widerlege innerhalb dieser „lustigen Truppe“ manches Klischee.

Wegdiskutieren lasse sich allerdings nicht: „Hauptauslöser für unsere Symptomatik ist der Stress“. Deshalb sei sein Engagement eine zweischneidige Sache: „Je mehr ich mich mit der Materie beschäftige, desto schlechter geht es mir eigentlich“, hat Martin Stafflinger festgestellt. Drum will er die Fäden auf lange Sicht auch nicht mehr quer durch die Republik, sondern nur noch vor Ort ziehen.

Am 21. Juni werden sich dennoch interessierte Blicke aus ganz Deutschland auf Roth richten. Nach dem jüngsten Event in Berlin findet hier nämlich der nächste bundesweite „Acne inversa“-Tag statt. In der Kreisklinik. Mit ausgewiesenen Kennern der Materie. Dafür hat Martin Stafflinger gesorgt.

Zu welchem Preis, weiß er noch nicht. „Ich kann heute nie sagen, wie es mir morgen geht...“

Wer die Arbeit der Acne inversa-Selbsthilfe unterstützen möchte, kann eine Spende leisten bei: Sparkasse Mittelfranken-Süd

IBAN: DE77 7645 0000 0231 3895 45 BIC: BYLADEM1SRS; Zweck: Hilfe zur Selbsthilfe. Weitere Infos sind zu finden unter www.akne-inversa.org

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