Zuhaus bei den Großen

14.10.2014, 17:00 Uhr
Zuhaus bei den Großen

„Ach du liebe Zeit!“, entfährt es der erfahrenen Gästeführerin, als sie sich dem Treffpunkt nähert. Nein, damit hat Marlene Lobenwein trotz aller Erfahrungswerte nicht gerechnet: Mehr als 100 Interessierte brennen im Schlosshof darauf, mit ihr auf Sondertour zu gehen – zu den „Reichen und Schönen“ aus Roths Vergangenheit, zu den Zeugnissen einer Blütezeit, zu den Leitfiguren städtischer Identität.

„Ma wass ja immer blouß a weng was“, umreißt eine Besucherin pragmatisch die Motivation des wanderwilligen Riesen-Kollektivs. Und außerdem: „Ma sichd suwas ja ned alle Dooch“.

Stimmt. Obschon Lobenwein das Programm en détail nicht verraten hat, soll es so kommen: Man wird sich später in einer Fabrikhalle aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts wiederfinden, und man wird die Privatgemächer zweier „Rother, die man früher gut gekannt hat“ in Augenschein nehmen dürfen.

Doch hier, im Schlosshof, ist freilich zunächst von ihnen die Rede: den Stiebers. Und so erfährt man, was man erfahren muss: dass der Name Stieber beim Aufstieg Roths zum einstigen Mekka der Christbaumschmuck-Produktion eine entscheidende Rolle spielte; dass dem Weitblick eines Wilhelm von Stieber (1846-1915) die Leonischen Werke zu verdanken sind; und dass sich dieser Freiherr durch die umsichtige Sanierung des Schlosses als wichtigster Denkmalschützer der Stadt gerierte.

Es schließt sich an: ein Fußmarsch in den Stadtpark. Wo sich dereinst ein Weiher streckte, thront heute die Villa mit dem charakteristischen Challenge-Zeichen – früherer Familienwohnsitz der Schrimpffs. Marlene Lobenwein zeigt Bilder von einem Fabrikgelände, das bis zur heutigen Ratibor-Residenz reichte. Und sie erläutert: Keine Bayka ohne Otto Schrimpff I. (1857-1932), der unternehmerisches Geschick bewies und aus der einstigen Firma „Riffelmacher&Engelhardt“ ein Kabelimperium formte. Seinem Sohn Otto II., der das Unternehmen mit Hans Breckwoldt weiterführte, habe Roth im Übrigen eine wichtige Schenkung zu verdanken — das Krankenhaus.

1955 sei schließlich der dritte Otto auf den Plan getreten, dessen Expansionsaktivitäten bis in den Iran reichten. Bedingt durch konjunkturelle Krisen, gehört der Betrieb seit 1999 allerdings der Wilms-Gruppe an.

Weiter geht’s zur Phalanx derer, die Glitzer und Glamour zu ihrem Markenzeichen machten: den Fabriken, die sich der Herstellung und/oder Verarbeitung leonischer Waren verschrieben hatten. Vorbei an Wohnsitz und Produktionshallen eines Wilhelm Schindler (gegenwärtige Frauenarztpraxis Runau/Fiegl-Huber und ehemalige Verkaufsräume von Eisen Schultheiß), hin zu Domizil und Fabrik des Garnspulenherstellers Heid (jetzt „Lindenpalais“) und dem Sitz eines der „ganz Großen“ früherer Zeiten: August Schlemmer (1845-1915). Rund herum um seine nun wieder aufgehübschte Villa in der Gartenstraße (heute: Gartenarchitekturbüro Ermisch) fertigten für ihn 300 Arbeiter leonische Waren, Christbaumschmuck und Spielzeug. Nachdem sein Sohn Karl die Produktion jedoch auf Porzellanschalter umgestellt hatte, ging das Unternehmen Mitte der 1930er spektakulär in Konkurs.

Ebenso wie die Schlemmer-Villa prägen auch sie das Stadtbild nicht unerheblich: die bestehenden Gebäude der Firma Fritz Stadelmann. Hier lief einst international gefragter Christbaumschmuck von den Maschinen. Gefertigt an Anlagen, die nach wie vor funktionieren, versichert Erbe Kurt Stadelmann den Besuchern. Dazu schließt er gerne das Tor zur einstigen Fabrikhalle auf, wo die Vergangenheit Hof hält.

Stadelmann plaudert aus dem Nähkästchen, lässt seine Gäste verblüfft in noch immer bestückte Versandkartons schauen und zeigt Fotografien aus jener Ära, als man in der Welt mit Weihnachtsschmuck glänzte. Zur Erinnerung drückt der Hausherr seinem begeisterten Publikum je ein Mini-Bäumchen aus Stadelmann´scher Produktion in die Hand.

Eher Bewahrer als Besitzer

So ausgerüstet, macht sich die große Schar auf den Weg in die Nürnberger Straße. Denn dort warten bereits Robert Graff und seine Frau Ilse auf Besuch. „Wir verstehen uns weniger als Besitzer, eher als Bewahrer“, sagt der Hausherr und führt seine Gäste nicht nur um den neoklassizistischen Bau herum. Auch die Tür zu den Innenräumen öffnet er bereitwillig. Denn dort, im Obergeschoss, ist alles noch so, wie es zu Lebzeiten von Linchen und Hermann Graff war.

Deren traditionsreiche Firma erlebte vor allem in der uniformfreudigen Epoche des Deutschen Kaiserreichs ihre Blüte. Denn spezialisiert hatte sich Gründer Georg Simon Graff auf Tressen, Litzen und Borten. Zumal das Unternehmen florierte, siedelte man vom Kern der Stadt an deren Rand, um sich dort zu vergrößern.

Doch Weltkriege und Wirtschaftskrisen setzten dem Betrieb wie auch seinen Mitbewerbern im Lauf des 20. Jahrhunderts zu. Mitglieder der Familie Graff, so heißt´s, hätten sich indes nicht nur als Industrielle hervorgetan, sondern auch als Bürgermeister, Landwehrhauptmann oder Schriftsteller...

Das Gefälle Richtung Innenstadt lotst die geschichtsaffine Gruppe weiter — direkt vor ein anderes prägnantes Gebäude der Stadthistorie: die ehemalige „Fabrik von Bronzefarben, Blattmetall, Rauschgold und Folien“ - kurz: Supf-Fabrik. Die sollte später auch als VAW und Tscheulin Rothal firmieren. Heute zeugen von der imposanten Industriekultur vergangener Tage nur noch der einstige Verwaltungsbau („Villa Lounge“) und die frühere Schlosserei (Bäcker Schaller), weil an die Stelle der Produktionshallen die Rothmühl-Passage gerückt ist.

Ans frühere Ende der Stadt führt letztlich auch das Ende der Villen-Tour: Denn bis 1903 war Kauernhofen kein integraler Bestandteil von Roth. Doch genau dahin („Betten Steib“) baute sich das Ehepaar Riffelmacher seine Villa und weitläufige Produktionsstätten zur Glühstrumpfherstellung — nachdem die Räume im Riffelmacher-Haus am Marktplatz zu klein geworden waren. Und erneut macht Marlene Lobenwein ihre Zuhörer staunen, als sie die Ausmaße jener Fabrik präsentiert, die sich dereinst der Bahnhofstraße bemächtigte.

Vorbei, vorbei. Aber obschon die goldenen Zeiten der Kreisstadt im Gestern schlummern — „ihr erinnerndes Bewahren“, sagt Marlene Lobenwein überzeugt, „ist unser Auftrag“.

Aufgrund der großen Nachfrage soll es im Frühjahr eine weitere Führung zu den Fabrikanten-Villen geben. Bereits für kommenden Advent ist eine eigene Sonderführung durchs Stadelmann-Areal geplant. Die Termine werden rechtzeitig bekannt gegeben.

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