Ein neues Leben: Sarah Paulus über den langen Weg zum Coming-Out als Frau

3.2.2019, 05:58 Uhr
Schwabach ist keine Großstadt. Sarah Paulus wusste nicht, was auf sie zukommt. Heute ist sie glücklich über die Entscheidung, hierher zu ziehen. „Ich habe viele Freunde gefunden“, sagt die 51-Jährige.

© Foto: Correll Schwabach ist keine Großstadt. Sarah Paulus wusste nicht, was auf sie zukommt. Heute ist sie glücklich über die Entscheidung, hierher zu ziehen. „Ich habe viele Freunde gefunden“, sagt die 51-Jährige.

"Wenn jemand in ein Restaurant kommt, der an Krücken läuft oder im Rollstuhl sitzt, dann schauen die Leute einen Moment lang hin und wenden sich dann wieder ab, es ist eben: ganz normal. Das wünsche ich mir auch für mich." Sarah Paulus trinkt einen Schluck von ihrem Cappuccino und lächelt. In dem Schwabacher Café, in dem wir sitzen, ist vormittags wenig los. Paulus erregt hier kein Aufsehen. Sie hat es aber auch schon anders erlebt – Blicke, die sie begutachten, Blicke, die sagen: Das ist doch nicht normal.

Sarah Paulus ist transident. Das heißt, die Schwabacherin war früher ein Mann. Jetzt ist sie eine Frau, zumindest was die innere Einstellung und die Kleidung angeht – die komplette Transformation zur Frau, also auch körperlich, will sie Ende 2019 abgeschlossen haben. Es soll der glückliche Schlusspunkt eines langen und schwierigen Weges werden. Es soll beenden, was Paulus erst vor wenigen Jahren aktiv begonnen hat, was sie aber schon fast ihr gesamtes Leben lang in sich gespürt hat.

Eine Familie

Die heute 51-Jährige weiß seit ihrem fünften Lebensjahr, das "etwas nicht stimmt", wie sie sagt. Sie ist als Peter Paulus in Nürnberg geboren, geht aber in Griechenland in den Kindergarten, in England zur Schule. Der Vater ist als Lehrer viel im Ausland tätig.

Paulus macht eine Lehre als Koch, lässt sich später noch zum Hotelbetriebswirt ausbilden und landet schließlich im Einzelhandel. Er – damals noch "er", zumindest nach außen – findet ein Frau, die beiden heiraten, gründen eine Familie. "Ein Wunschkind", sagt Paulus, das Geschlecht des heute 14-jährigen Kindes nennt sie bewusst nicht.

"Gebt ihm Medikamente"

Aber warum? Ist es nicht ein irgendwie falsches Leben? "In den 70er-Jahren war es nicht möglich, über dieses Thema auch nur zu reden", erklärt Paulus. Ihre Eltern ins Vertrauen zu ziehen sei für sie undenkbar gewesen. "Wie gesagt, es waren die 70er – die hätten wahrscheinlich gesagt: Gebt ihm Medikamente, dass der Bub wieder gesund wird", sagt Paulus und lacht.

Sie wächst in die Männerrolle hinein. "Die Mädchenrolle wäre mir lieber gewesen. Aber man lernt, damit zu leben", sagt sie und zuckt mit den Achseln. Was blieb, war "eine gewisse Unzufriedenheit", häufige Wechsel des Arbeitsplatzes, Rastlosigkeit.

Rücksicht auf die Kinder

Der Verein "Trans-Ident" hat das Ziel, "Menschen mit transidentem Empfinden" zu unterstützen. In Nürnberg ist Cornelia Mai Ansprechpartnerin, auch sie ist transident. Aus der Nürnberger Selbsthilfegruppe kennt Mai die Fälle, in denen Menschen schon in der frühen Kindheit merken, das sie im Inneren anders sind, als es ihr Körper und die Gesellschaft vorgeben. "Gerade in den 70er- oder 80er-Jahren wurde es von vielen geheim gehalten oder nur versteckt ausgelebt", erklärt Mai. Nach außen bleibe man – beziehungsweise "frau" – in der Männerrolle, besonders wenn Kinder da sind. Das Coming Out komme aus Rücksicht oft erst, wenn die Kinder die Pubertät hinter sich haben.

Bei Sarah Paulus ist das Coming Out gerade einmal zwei Jahre her. Zwar hatte ihre – damals noch "seine" – Ehefrau früh von der Sache Wind gekriegt. "Ich habe ihren Kleiderschrank benutzt", sagt Paulus und lächelt. Die Partnerin hielt das Interesse an Frauenkleidern für einen Fetisch. Für Paulus war es auch damals schon mehr.

"Kann es sein, dass Sie lieber eine Frau wären?"

"2017 habe ich es nicht mehr ausgehalten", erzählt sie. In einer Therapie-Sitzung passiert es schließlich, das Coming Out. "Ich hatte aufgeschrieben, was mich beschäftigt und die Texte meiner Therapeutin zum lesen gegeben. Sie fragte mich schließlich: Kann es sein, das Sie lieber eine Frau wären? Ich sagte: Ja." Ein kleines Wörtchen, das Paulus eine riesige Last vom Herzen nimmt. Endlich ist es ausgesprochen. Aber was nun?

Paulus hat Glück, die Ehefrau nimmt die Nachricht erstaunlich gelassen auf. "Dann sind wir ab jetzt beste Freundinnen", sagt sie. Die Trennung lässt sich trotzdem nicht vermeiden, es habe schließlich zuvor schon gekriselt, sagt Paulus. Dennoch ist es eine Trennung im Guten, auch heute haben die beiden noch Kontakt.

Doch Paulus fällt in ein Loch. Sie ist zu dem Zeitpunkt arbeitslos. Ihr Kind reagiert im Gegensatz zur Mutter sehr ablehnend. Paulus versucht, sich umzubringen, landet schließlich in der psychiatrischen Klinik.

Ohne psychologischen Beistand, das bestätigt auch Cornelia Mai, schaffen wenige Transidente den Sprung in ein neues Leben. "Es ist gut, sich Begleitung zu suchen", sagt Mai. Sei es in der Selbsthilfegruppe oder von professioneller Seite. "Wir beraten ehrenamtlich, aber wir vermitteln natürlich auch Kontakt zu Ärzten und Therapeuten." Besonders bei Jugendlichen frage man genauer nach: Bist du wirklich sicher? Manchmal sei es nur eine Phase, so Mai. Junge Leute wollen sich austesten, sich entdecken.

"Es dauert alles so lange"

Sarah Paulus ist sich sicher. Obwohl sie sich nach ihrem Suizidversuch wieder erholt, machen ihr die langen Wartezeiten zu schaffen. Der bürokratische Aufwand, einen Frauennamen annehmen zu können; das Warten auf Arzttermine wegen Hormontherapie und Operationen – "Ich hatte mich entschieden, hatte mein Coming Out und wollte sofort ein neues Leben starten – und dann dauert alles so lange", seufzt Paulus. Aber: "Während des Krankenhaus-Aufenthalts habe ich gelernt, an mich selber zu glauben".

In diese schwere Phase fällt ein glücklicher Umstand. Noch aus der Klinik kauft sie eine Eigentumswohnung in Schwabach. Ausgerechnet hier, in der vermeintlich eher zurückhaltenden Kleinstadt, wendet sich vieles zum Guten. "Die Leute sind überwiegend sehr offen", schwärmt Paulus, "ich habe hier in sehr kurzer Zeit viele gute Freunde gefunden".

In der "Unfassbar" steht sie manchmal vor und manchmal auch hinterm Tresen. Bei Hornbach hat sie einen neuen Job gefunden. Der Firmenname soll unbedingt im Artikel stehen, sagt sie, weil man sie dort so fantastisch aufgenommen habe – sowohl die Kolleginnen und Kollegen als auch der Chef. "Es ist meine neue Hornbach-Familie", betont Paulus. Die geregelte Arbeit, das Gefühl, dort gebraucht zu werden, das hilft Paulus auch mental.

Männlichen Kleiderschrank entsorgt

Nachdem sie ihren männlichen Kleiderschrank in einer geradezu symbolischen Aktion beim Recycling-Hof entsorgt hat, macht Paulus ihren ersten Einkauf von Frauenklamotten mit ihrer Mutter. Denn die Eltern, vor deren Reaktion Paulus sich jahrelang fürchtete, haben ganz anders reagiert als erwartet. "Warum hast du nicht schon viel früher etwas gesagt?", habe der Vater sie gefragt.

Das ist alles andere als selbstverständlich, sagt Cornelia Mai von Trans-Ident: "Eine ablehnende Reaktion der Familie zieht die wahrscheinlich schwerste psychische Belastung nach sich.". Sie kennt Beispiele von "erzkonservativen Eltern", die dem eigenen Kind nur die eine Wahl lassen: das Leben im Falschen fortführen oder mit der eigenen Familie brechen. Es gebe aber auch ermutigende Beispiele: "Oft dauert es etwas länger, irgendwann aber entwickelt sich dann doch die Haltung: Es ist egal, du bist und bleibst mein Kind."

Paulus hat in dieser Hinsicht Glück gehabt. Sie wirkt insgesamt aufgeräumt, hoffnungsfroh. Auch selbstbewusst. Und die lange Zeit als Mann? Wäre sie gerne noch einmal jung, als Frau? "Es ist wie es ist. Manchmal wäre ich gerne nochmal 30. Aber die Transidentität ist wie ein Jungbrunnen für mich. Ich gehe viel mehr weg als früher, habe eine tolle Zeit, treffe Freunde."

"Meine Reise zum ich"

Außerdem hat sie ihre Erfahrungen in einem Buch verarbeitet. "Meine Reise zum ich" ist eine Sammlung von Texten und Gedichten, die sie in den vergangenen Jahren zu Papier gebracht hat. Stimmungsbilder, hoffnungsvolle und lustige Geschichten, aber auch negative Gedanken aus der Zeit der Depression – das 257 Seiten lange, im Eigenverlag gedruckte Buch gibt es bisher nur in der "Unfassbar" (Südliche Mauerstraße 3) oder in der Buchhandlung Kreutzer am Schwabacher Marktplatz zu kaufen, Paulus führt aber derzeit Gespräche mit einem Verlag.

Ihr Buch, dieser Zeitungsartikel, die alltäglichen Begegnungen beim Einkauf oder in der Arbeit – Sarah Paulus geht offen mit ihrer Transidentität um. "Das ist ganz normal, Leute! Wer Fragen dazu hat, kann mich gerne ansprechen", bietet sie an. "Ich verstecke mich nicht!" Das hat sie schließlich lange genug getan.

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