Glosse: Es ist zum Verzweifeln — oder doch nicht?

7.5.2017, 06:00 Uhr
Klare Sache: Wer an Patienten herumschnipselt, der darf kein Zweifler sein.

© Martina Kothe Klare Sache: Wer an Patienten herumschnipselt, der darf kein Zweifler sein.

Endlich weiß ich jetzt, wieso ich kein Chefarzt bin. Bisher hatte ich immer mit der ernüchternden Einsicht gelebt, dass es möglicherweise einen nicht völlig zu leugnenden kausalen Zusammenhang mit meiner eher — wie soll ich sie nennen — unspektakulären Abi-Note gibt. Doch der wahre Grund liegt viel tiefer.

"Man darf kein Zweifler sein." Sagte Dr. Markus Scheuerpflug, neuer Chirurgie-Chefarzt am Stadtkrankenhaus Schwabach. Einfach so, nicht ahnend, was er in mir auslöst. Das hat mich erschüttert.

Bloß keine Widerworte

Für einen kurzen Moment hatte ich beim Pressegespräch deshalb noch erwogen, Widerworte zu wagen. Ein Plädoyer für den Zweifel zu halten: als unerlässliche Grundlage jeden Erkenntnisgewinns. Als Ausgangspunkt jeder Aufklärung. Ja, ich wollte sogar bis zum Äußersten gehen und als Kronzeugen Rene Descartes, den Philosophen aller Zweifler, zitieren und so tun, als hätte ich ihn je gelesen.

Aber im selben Moment brach mein innerer Widerstand in sich zusammen. Vielleicht hatte Descartes ja Unrecht? Vielleicht ist der Zweifel zwar Anstoß zum Denken, aber für jedes Handeln nur Ballast?

Kann man so auch nur einen Blinddarm herausschnipseln? Wünscht man sich als Patient einen Operateur, der vor einem offenen Bauch erst einen Ärztekongress einberuft? Scheuerpflug hat recht. Ein Chefarzt darf kein Zweifler sein. Und deshalb bin ich kein Chefarzt. Denn ich zweifle dauernd.

Fragen über Fragen

Stelle ich überhaupt die richtigen Fragen? Motivieren meine Überschriften zum Lesen? Fesselt bereits der Einstieg in den Text? Sollte ich nicht doch einmal die Telefonbuch dicken Unterlagen lesen, bevor ich in den Stadtrat gehe? Schreibt man "recht haben" wirklich klein, "wie viele" auseinander und "zurzeit" tatsächlich zusammen? Hätte ich als Fußballer nicht viel besser verdient? (In der Kleinfeld war ich doch gar nicht schlecht.) Ist ein Chip in der Kamera? Wieso muss immer ich den Rasen mähen? Wann ruft mich endlich die New York Times an? Hab ich den Hund gefüttert? Wieso interviewe ich Matthias Thürauf statt Emma Watson? Hätte ich nicht doch fürs Abi lernen sollen? Weshalb regnet es ausgerechnet immer dann, wenn ich nach Schottland fahre? Warum verdammt steigt dieser depperte Club nicht auf? Bringen all diese Fragen was? Irgendetwas?

Sogar meine Zweifel bezweifle ich! Es ist zum Verzweifeln.

Was soll ich nur tun? Im Wald die Bäume anschreien? Yoga für Jammerlappen? Mir die Welt schön trinken, falls man das auseinander schreibt? Ist Sushi doch die Lösung?

Die Perspektive wechseln

Ach was! Man muss nur ein klein wenig die Perspektive wechseln: Wer bitte will schon Chirurgie-Chefarzt werden? Die große Verantwortung! Die ständige Bereitschaft! Das dauernde Stehen im OP-Saal! Das Gepfriemel mit dem Tupfer! Das Getue mit den Privatpatienten! Das bisschen Geld! Die vielen Neider! Armer Dr. Scheuerpflug.

Ich haue lieber ein wenig in die Tastatur, hänge im Stadtrat ab, knipse ab und zu ein Bildchen, freue mich, dass ich keine meiner blöden Fragen beantworten muss, gehe kostenlos in Konzerte, wenn ich ein paar Zeilen darüber schreibe, und wenn die Unsinn sind, macht es nichts, weil morgen eh alles in der grünen Tonne landet. Was für ein lässiges Leben.

Zeitungsredakteur muss man sein — ohne jeden Zweifel.

 

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