Glosse: Wir haben sie alle totgefahren

29.10.2017, 06:00 Uhr
Sie hat überlebt. Aber im Vergleich zu den 1980-er-Jahren gibt es heute 76 Prozent weniger Insekten.

© dpa Sie hat überlebt. Aber im Vergleich zu den 1980-er-Jahren gibt es heute 76 Prozent weniger Insekten.

Bei der letzten Volkszählung ist herausgekommen, dass heute 76 Prozent weniger Insekten in Deutschland leben als noch vor 30 Jahren. Abzulesen ist das unter anderem an den 43 Millionen Autos in unserem Land. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, erinnern sich bestimmt noch: Früher musste man nach einer sommerlichen Landpartie eine Stunde lang mit heißem Wasser und kräftigen Schwämmen tausende zerborstene kleine Körper von Windschutzscheiben, Scheinwerfern und Kennzeichen kratzen. Wer das nicht tat, lief Gefahr, dass sich die Rückstände der Insekten buchstäblich ins Glas oder ins Blech hineinfraßen. Die Rache der Fliegen konnte unsereins also noch nach deren Tod ereilen. Sie ähnelten damit gewissermaßen den Zombies und Mumien.

Alles blitze-blank

Und heute? Auch nach einer 500-Kilometer-Tour bei strahlendem Sonnenschein und 30 Grad Außentemperatur leuchten Lack und Fenster unserer Autos so klar wie zu Beginn der Fahrt. "Summ, summ, stumm", titelte unsere Zeitung kürzlich auf der ersten Seite.

76 Prozent weniger Insekten also. Bei Ameisen, Käfern und Libellen, ja selbst bei vielen Zweibeinern hat diese Nachricht Erschütterung hervorgerufen. Ich dagegen bin eigentlich ganz froh, in jüngster Zeit nicht mehr von so vielen Schnaken und Stechmücken belästigt zu werden. Deren Nervigkeitspotenzial ist ja höher als das von gebrochen Deutsch sprechenden Mitarbeitern von Callcentern, die mich am Telefon dazu bewegen wollen, an einer Umfrage teilzunehmen ("dauert nur fünf Minuten").

Ich weiß, dass mein Weltbild in der Insektenfrage ein wenig egozentrisch erscheint. Deshalb tue ich in offiziellen Stellungnahmen selbstverständlich meine Bestürzung kund und bedauere die kleinen Singvögel, die keine Fliegen mehr, und die größeren Raubvögel, die keine Singvögel mehr zu fressen finden.

Wo sind sie hin?

Die Frage ist: Wo sind all die Insekten hin? Schlaue Leute glauben die Antwort gefunden zu haben. Schuld seien wieder einmal die Landwirte, die mit ihren Monokulturen und dem Einsatz ihrer Pestizide (Glyphosat!!!) unseren sechsbeinigen kleinen Freunden erst die Lebensgrundlagen entzogen und dann das Lebenslicht ausgeblasen haben. Auf den kleinen Blühstreifen zwischendurch ist einfach nicht genug Platz für alle. Solche Blühstreifen ähneln nämlich eher den Visegràd-Staaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen. Wenn man erst einmal da ist, ist’s ja ganz schön. Doch noch ehe ein Insekt auf der Flucht vor den Pflanzenschutzmitteln "Asyl" rufen kann, wurden schon die Schlagbäume heruntergelassen.

Die Erklärung für den Artenschwund – Monokulturen, Einsatz von Pflanzenschutz- und Insektenvernichtungsmitteln – mag wissenschaftlich begründet sein. Aber vielleicht spielt ja noch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle, womit ich wieder zum Beginn dieses "Goldrichtig" zurückkomme: Vielleicht haben wir unsere Insekten gar nicht vergiftet. Vielleicht haben wir die 76 Prozent, die heute fehlen, in den vergangenen 30 Jahren einfach mit unseren 43 Millionen Autos bei den unzähligen sommerlichen Landpartien: totgefahren.

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