Todesschüsse an der CSSR-Grenze: Jetzt wird ermittelt

23.12.2017, 05:55 Uhr
Die Westdeutsche Grenzsoldaten an der Grenze zur einstigen Tschechoslowakei. Wie an der innerdeutschen Grenze starben auch hier Flüchtlinge aus der DDR im Kugelhagel.

© Foto. Sepp Spiegel/imago Die Westdeutsche Grenzsoldaten an der Grenze zur einstigen Tschechoslowakei. Wie an der innerdeutschen Grenze starben auch hier Flüchtlinge aus der DDR im Kugelhagel.

Als der Magdeburger Zahnarztsohn 1986 das Abitur in der Tasche hatte, war er verzweifelt. Weil er aus einer bürgerlichen Familie stammte, durfte Hartmut Tautz in der DDR nicht Musik studieren. Also wollte er in den Westen: Im August 1986 reiste der 18-Jährige nach Prag und von dort aus nach Bratislava.

Am Abend des 8. August 1986 versuchte Hartmut Tautz in der Nähe von Petržalka die Grenze nach Österreich zu erreichen. Er hatte bereits mehrere Grenzsicherungsanlagen überwunden und konnte schon die Lichter des österreichischen Dorfes Kitsee sehen, als er einen Signaldraht berührte und bei der 11. Kompanie der Grenzwachbrigade Bratislava Alarm auslöste.

Zwei Grenzsoldaten ließen ihre Hunde von der Leine, die Hartmut aufspürten und anfielen. Als ihn die Grenzer erreichten, ließen sie ihn zunächst liegen und befragten den Verletzten nach seinen Papieren und etwaigen Mitflüchtlingen.

Tod im Krankenhaus

Die Hunde hatten dem wehrlosen Flüchtling am Kopf und an den Beinen schwere Bisswunden zugefügt. Es dauerte noch lange, bis ein Krankenwagen erschien und Hartmut Tautz in das Militärkrankenhaus nach Bratislava brachte. Dort erlag er am 9. August seinen Verletzungen.

Vor zwei Jahren fand in Brüssel ein Symposium zum Thema "Kommunistische Verbrechen" statt. Dabei traten auch die Schwester und die Mutter von Hartmut Tautz auf. Nach jahrelangen Recherchen präsentierten etliche Organisationen dort unzählige Fälle von willkürlicher Gewalt in Staaten wie der Tschechoslowakei, Ungarn und auch Bulgarien.

Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, immerhin schaffte es der Fall nach Karlsruhe. Die Stiftung "European Memory and Conscience" reichte die Strafanzeigen im August 2016 in Prag ein. Unter den über 50 Beschuldigten sind nicht nur die Todesschützen, sondern auch ranghöhere Militärs sowie die drei letzten noch lebenden Mitglieder des Politbüros der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei: der ehemalige Generalsekretär Miloš Jakeš sowie die früheren Regierungschefs Lubomir Strougal und Peter Colotka.

Der Bundesgerichtshof, bei dem die Strafanzeige schließlich einging, legte Weiden als zuständiges Gericht fest. Das Landeskriminalamt unterstützt die Ermittlungen. Wie lange sich diese hinziehen werden, ist unklar, sagt der Leitende Staatsanwalt Gerd Schäfer. "Das kann sehr langwierig werden."

"Mord verjährt nie"

Fast 30 Jahre dauerte es also, bis der Mordfall Tautz nun zum Verfahren für ein deutsches Gericht wird. Die Tat ereignete sich zwar auf heute slowakischem Territorium. Weil das Opfer Deutscher war, sind aber deutsche Gerichte zuständig. Und: "Mord verjährt nie,"

So ermittelt die Staatsanwaltschaft auch in einem Fall von 1967: Damals wurde der 28-jährige Richard Schlenz aus Leipzig auf österreichischem Territorium von tödlichen Schüssen getroffen. Er hatte den Fluss Morava an der (heutigen) slowakisch-österreichischen Grenze durchschwommen und glaubte, der Schießbefehl gelte nicht für die tschechoslowakischen Grenzsoldaten - ein fataler Irrtum.

Ursprünglich sollte noch ein weiterer Fall untersucht werden. Ein Rentner aus Amberg, der im Grenzgebiet spazieren ging, wurde 1986 mit einem polnischen Flüchtling verwechselt und erschossen. Dies sei aber nach derzeitiger Einschätzung verjährt, da der Fall nicht als Mord gewertet werden könne. Eine Strafverfolgung sei somit nicht mehr möglich, sagte Schäfer.

Allerdings tauchten in den Akten auch Fälle auf, die bisher im Westen nicht bekannt waren: Am 6. August 1977 starb zwischen Broumov und Mähring (Landkreis Tirschenreuth) Gerhard Schmidt. Der 38-jährige Familienvater aus der Nähe von Magdeburg hatte mit seiner Frau und drei Kindern ein Loch im Sperrzaun überwunden, als ihn tödliche Schüsse der tschechoslowakischen Grenzbeamten trafen. Seine Familie wurde den DDR-Behörden übergeben.

Zwei Wochen später, am 21. August 1977, wurde auf CSSR-Gebiet bei Rybník kurz vor Stadlern (Landkreis Schwandorf) der 28-jährige Arbeiter Kurt Hoffmeister aus Eisenhüttenstadt erschossen. Er wollte in den Westen flüchten.

Die Aktivitäten der Stiftung "European Memory and Conscience" könnten noch weitere Fälle von erschossenen DDR-Flüchtlingen vor Gericht bringen. So hatte der Oldenburger Politikwissenschaftler Stefan Appelius vor zehn Jahren den Umgang der bulgarischen Grenzer mit DDR-Flüchtlingen aufgedeckt. Bulgariens Schwarzmeerküste war ein beliebtes Reiseziel. Tausende DDR-Bürger versuchten, sich von dort quer durchs Land ins ehemalige Jugoslawien und weiter in den Westen abzusetzen.

Tödlich endete dieser Grenzübertritt wenige Tage vor den Olympischen Spielen 1972 für den damals 32 Jahre alten Nürnberger Rolf Kühnle - das Ende einer deutsch-deutschen Romanze. Der Optiker hatte in Prag die 26 Jahre alte Wera Sandner kennen- und lieben gelernt. Ständig trafen sie sich in Ostberlin, in Leipzig, bis der Plan zur Flucht via Bulgarien reifte.

Perfides System

Mit einem gefälschten westdeutschen Pass wollte er Vera über die Grenze bei Kalotina nach Serbien bringen. Zwar wusste das Paar, dass die Stasi Spitzel in den Strandhotels hatte. Aber das System war noch perfider. Es ist anzunehmen, dass der Schießbefehl direkt an die Grenze weitergeleitet wurde.

Rolf fuhr nämlich ein auffälliges türkisblaues Skoda-Cabrio. Und als beide plötzlich aus ihrem jeweiligen Hotel verschwunden waren, informierte die Stasi die Grenzpolizei. Beide wurden erschossen, wie mindestens zwölf weitere DDR-Bürger. Die Beamten der Stasi zahlten sogar Prämien. Die genauen Umstände der Ermordung des Paares sind bis heute unklar.

Appelius fand in den Vororten von Sofia etliche Gräber von DDR-Bürgern, darunter das von Vera Sandner. Der Skandal um die Todesschüsse auf das deutsch-deutsche Paar ging im August 1972 in der Olympia-Euphorie unter. Appelius kann weitere 15 Morde an DDR-Flüchtlingen in Bulgarien belegen.

Staatliche Willkür

Angesichts des Engagements der Stiftung "European Memory and Conscience" könnte auf die Strafverfolger in den kommenden Jahren noch einige Arbeit mit historischen Altfällen warten, die bisher als "Kollateralschäden des kalten Krieges" nur selten Beachtung fanden. Gerade in Tschechien beteiligen sich etliche junge Historiker an der Aufarbeitung der kommunistischen Zwangsherrschaft, ebenso forschen slowakische, ungarische, polnische, slowenische und lettische Wissenschaftler daran, die staatliche Willkür ihrer Vater- und Großvater-Generation aufzuarbeiten.