Fußball mit abgedunkelten Skibrillen

20.10.2016, 08:51 Uhr
Fußball mit abgedunkelten Skibrillen

© Bastian Mühling

Bevor die U15 es selbst ausprobieren darf, muss erst einmal die Theorie geklärt werden. Projektbetreuer Joachim Plingen erklärt sie ihnen zusammen mit dem Blindenfußballer Marcel Heim. Zum Beispiel sieht der Torwart beim Blindenfußball. Warum? Er hätte ansonsten keine Chance, denn der speziell angefertigte Ball erzeugt beim Dribbeln oder beim Rollen zwar einen rasselähnlichen Sound, in der Luft bleibt das Spielgerät aber stumm. Im Inneren des Balls sind mehrere Metallplättchen mit kleinen Kügelchen, die den Rassel-Klang erzeugen. Die Spieler nehmen die Kugel rein über das Gehör wahr.

Mit Kopfschutz

Wie alle Spieler der Bundesliga hat auch Marcel Heim eine Sehfähigkeit von unter zehn Prozent. Trotzdem trägt jeder neben dem Kopfschutz eine Augenbinde, um dafür zu sorgen, dass jeder gleich viel sieht. „Außerdem klebt man sich Pflaster hin, sodass man auch nichts sieht, wenn die Binde verrutscht oder wenn man sie hochschiebt“, meint Heim. Nächster Punkt ist die Spielfläche, die so groß ist wie ein Handballfeld. An beiden Enden Tore, die ebenfalls die Größe wie beim Handball haben. Außerdem gibt es keine Linien, sondern Banden, die aber nur an den Seiten angebracht sind. Als Plingen von den Banden erzählt, stutzen die ersten. „Ihr dürft Euch das nicht falsch vorstellen. Wenn Ihr Euch das auf Youtube anschaut, seht Ihr, dass Blindenfußball temporeich, kraftvoll und dynamisch ist.“

Aber wie sollen die Spieler wissen, wo sie hinlaufen oder wann sie schießen müssen? Dafür sind die sogenannten Guides zuständig. Einer steht hinter dem gegnerischen Tor und dirigiert den Sturm. Für das Mittelfeld sind die Trainer zuständig, während die Kommandos für die Abwehr vom Torhüter kommen.

Jetzt dürfen die jungen Fußballer  des TSV 1860 Weißenburg es selbst ausprobieren. Statt Augenbinden werden abgedunkelte Skibrillen verwendet. Die Trainingsgruppe startet mit einer Polonaise, nur einer in der Reihe sieht etwas und lenkt die anderen. Er darf aber nichts sagen, sondern tippt seinem Vordermann auf die Schulter. Zu Beginn stoßen die Jugendlichen zusammen und wirken nervös.

Dann wird gekickt. Marcel Heim steht am Spielfeldrand und kriegt alles mit. Sobald ein Ball in die Nähe kommt, zeigt er einen Reflex und stoppt das Leder. Dass die Jugendli­chen am Anfang noch unsicher sind, ist normal: „Zum Schluss aber sind sie sehr interessiert und stellen Fragen ohne Ende.“ Plingen kann ihn da nur bestätigen: „Anfangs stutzen alle erst einmal und haben nicht so Lust drauf, am Schluss aber sind sie begeistert.“

Marcel Heim ist beim Blindenfußball von Beginn an dabei: Bei den ers­ten Schnuppertrainings, die als internationale Lehrgänge während der WM 2006 stattfanden, ging es für ihn los. Damals, kurz nach seiner Erblindung mit 21 Jahren, war er im Berufsförderungswerk in Würzburg, wo er das Blindenfußball-Team mitgründete. Mittlerweile hat es ihn nach Köppern (bei Frankfurt) verschlagen. Dort will er zusammen mit dem Verein „einen Trainingsbetrieb für Blinde aufbauen“. Ehe er binnen von fünf Monaten wegen einer Krankheit erblindete, war er begeisterter Straßenfußballer – aber auch heute noch lebt er den Sport und will „den Teilnehmern zeigen, dass Fußball auch blind möglich ist“.

Der 31-Jährige spielt momentan in der Blindenfußballbundesliga für den SV Teutonia Köppern, der zusammen mit dem PSV Köln antritt. „Solche Spielgemeinschaften sind normal, es gab sogar mal eine Kooperation von Würzburg und Berlin.“ Vor dem aktuellen Projekt war Heim auch schon mit den Sportarten „Rollstuhlbasketball“ und „Goalball“ unterwegs. Das Projekt „Neue Sporterfahrung“ widmet sich nun dem Blindenfußball und wird von der Telekom finanziert.

Während Marcel Heim von sich erzählt, lassen die U15-Kicker den Ball zwischen ihren Beinen pendeln, sie dribbeln und machen eine Torschuss­übung – alles „blind“ und natürlich ohne Torhüter. Zwei Stunden später werden auch Spieler der U17 und der U19/2 diese Übungen machen. Martin Bittl, der das Projekt nach Weißenburg geholt hat und bekanntlich auch Trainer der ersten Mannschaft ist, zeigte sich in seinem Fazit begeistert: „Richtig klasse. Ein absolutes Erlebnis für die Jungs.“

Aber warum macht Marcel Heim eigentlich nicht selbst mit? Er formuliert es vorsichtig, aber es ist klar, was er meint: „Die sollen ihren Spaß haben.“ Heim würde sie wahrscheinlich abzocken, wie man in der Kickersprache gerne sagt. Für das Abschlussspiel prophezeit er: „Das wird nachher ausschauen wie bei den Bambini.“ Er wird recht behalten.

Man spricht Spanisch

Vor dem Match der U15 weist Projektbetreuer Joachim Plingen noch auf eine sehr wichtige Regel hin: Man spricht Spanisch im Blindenfußball. Die Sportart kommt zwar ursprünglich aus Brasilien, das Regelwerk ha­ben aber die Spanier geschrieben. Wenn man einen Gegner angreift, muss man „Voy“ (spanische Kurzform für „Ich komme“) sagen. Klingt komisch, ist aber notwendig, um Zusammenstöße zu vermeiden. Und dann pfeift Plingen, der an der Sporthochschule Köln studiert hat, das Spiel an. Von außen betrachtet sieht es lustig aus, wie die Fußballer ein ums andere Mal den Ball verfehlen, verzweifelt die Anweisungen des Guides umzusetzen versuchen oder schlichtweg einfach gegen den Pfosten laufen. Dann taucht nicht nur einmal die Frage „Wo bin ich?“ auf.

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