Der Mann mag Dampf

6.6.2016, 16:33 Uhr
Der Mann mag Dampf

© Julia Beeck

„Das ist ganz, ganz großer Mist!“, schimpft Martin Boss in sonorem schwäbischen Bariton und deutet auf den Rahmen einer Modelldampflokomotive. „Sieht dieses Stück Plastik etwa nach Holz aus?“ fragt er und gibt gleich selbst die Antwort. „Nein, überhaupt nicht. So muss eine Holzmaserung aussehen!“ Zur Demonstration hält er ein Stück echtes Holz in die Höhe.

„Außerdem: Bei diesem Modell funktioniert weder die Federung noch die Lampe“, erklärt er. Nach und nach wird Boss die Lokomotive auseinandernehmen und Stück für Stück auswechseln. Der Plastikrahmen wird durch Holz ersetzt, die Federung wird später tatsächlich Stöße abdämpfen, und auch die Blechglocke wird gegen eine bronzene ausgetauscht – „die dann natürlich klingeln kann“.

Seine Liebe zu Modelldampflokomotiven und damit zum Modellbau beginnt mit seinem 7. Geburtstag. Da bekommt er von seinem Vater eine Modelleisenbahn geschenkt. Ab da ist er, wie er selbst sagt, „infiziert“.

Lange wünscht sich Boss eine Modelldampflok der amerikanischen Eisenbahngesellschaft mit dem klangvollen Namen „Santa Fe“. „Die habe ich aber nie bekommen. Erst als Erwachsener habe ich mir diesen Kindheitstraum erfüllt“, sagt Boss und gibt damit gleichzeitig eine Erklärung für seine Sammlerleidenschaft. „Da musste ich wohl etwas kompensieren“, meint er. „Inzwischen besitze ich 88 amerikanische Lokomotiven“ – die meisten im Maßstab 1:87. Es sind aber auch ein paar Stücke in 1:20,3 dabei. Und die fahren sogar mit echtem Dampf anstatt elektrisch.

Der Mann mag Dampf

© Julia Beeck

An den amerikanischen Modellen schätzt Boss nicht nur deren Austauschmöglichkeiten, sondern auch ihre eisenbahnromantischen Namen. „Wenn ich allein den Namen ‚Havanna Fruit and Steem Ship Company‘ höre, gehen meine Gedanken auf Reisen“, schwärmt er.

Im Hauptberuf ist Martin Boss Kurator der Antikensammlung der Universität Erlangen-Nürnberg. Vor über 20 Jahren hat er den Museumsbetrieb mit der Abteilung antiker Originale und der Gipsabdruckgalerie ins Leben gerufen.

Seine Leidenschaft für den Modellbau hat dabei das Museum und den Studienbetrieb in der Klassischen Archäologie geprägt: Neben Berghütten, Villen und Wolkenkratzern im Miniformat baut Boss auch antike Gebäude.

Prominentestes Beispiel ist ein vollständiges Forum Romanum im Bonsai-Format. Eigentlich sind es zwei Modelle: Das erste zeigt das Forum in der Zeit der späten Republik etwa um 50 vor Christus, das zweite veranschaulicht das Forum Romanum in der Kaiserzeit nach dem Tode des Augustus im Jahr 14 nach Christus.

„Im Vergleich sieht man sehr schön, wie sich die einzelnen Bauten architektonisch verändern.“ Da ist die Basilica Iulia, ein langgestreckter Hallenbau mit filigran geschnitzten Holzsäulen, der grazile Tempel des Saturn und sogar der Meilenstein, der damals die Provinzhauptstädte und ihre jeweilige Entfernung von Rom zeigte. Boss’ Forum Romanum wird oft an andere Museen ausgeliehen; zu sehen waren beide Versionen schon in Berlin, Kassel und München.

Viele Studierende haben sich unter der Anleitung des Kurators mit antiken Modellen von Häusern, Brunnen oder Tempeln verewigt. Boss ist wichtig, den Studierenden handwerkliches Können mitzugeben. „Unsere Disziplin neigt dazu, etwas theorielastig zu sein. Deshalb sind praktische Impulse wichtig. Denn schließlich ist alles, was wir Archäologen konservieren oder ausstellen, ein Produkt antiker Handwerkskunst.“

Neben der Vermittlung von wissenschaftlichen Inhalten und der konkreten handwerklichen Arbeit ermöglicht der Museumsbetrieb auch, den Studierenden zu zeigen, wie ein Museum funktioniert. „Immerhin werden viele Studierende später in Museen oder Sammlungen arbeiten. Die Antikensammlung ist da der ideale Ort, um auszuprobieren, wie Ausstellungsstücke gezeigt werden können.“ Überhaupt ermutigt Boss die Studierenden, die „ausgetretenen Pfade“ zu verlassen.

Denn eines ist klar, sagt er: „Mit der Einführung des Bachelor- und Master-Abschlusses ist eine gewisse Standardisierung des Wissens einhergegangen. So traurig dies ist, aber man wird dadurch austauschbar. Daher sollten Besonderheiten kultiviert, oder anders ausgedrückt, Sekundärtugenden gefördert werden“, betont er. Mit seiner Leidenschaft für Dampflokomotiven und der daraus hervorgegangenen Liebe zur handwerklichen Präzision ist er selbst das beste Beispiel.

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