Palliativmedizin: Grenzbereich zwischen Leben und Tod

11.6.2015, 17:21 Uhr
Palliativmedizin: Grenzbereich zwischen Leben und Tod

© Uni-Klinikum

„Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“ Dieses Zitat aus Max Frischs „Tagebuch 1966 - 1971“ ist so etwas wie das Glaubensbekenntnis der Palliativmedizin.

Es geht um die Behandlung, oder besser: medizinsische Betreuung, von unheilbar kranken Menschen. Die Schmerzen dieser Patienten sollen gelindert, ihre Leidenssymptome vermindert werden. „Wir machen noch sehr viel, nur der Fokus der Therapie hat sich verschoben“, erklärt Prof. Christoph Ostgathe, der die Palliativmedizinische Abteilung am Erlanger Uni-Klinikum leitet.

Damit das gelingt, arbeiten speziell geschulte Pflegekräfte, Ärzte, Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter und Physiotherapeuten eng zusammen. „Unsere Arbeit ist auch für uns persönlich eine große Herausforderung. Nur ein funktionierendes Team kann eine solche Belastung tragen“, sagt Ostgathe. Das gemeinsame Ziel: den Patienten so weit zu stabilisieren, dass er wieder nach Hause, in ein Hospiz oder in ein Pflegeheim entlassen werden kann.

Seit die Station vor fünf Jahren gegründet wurde, legt Ostgathe sehr viel Wert darauf, die Palliativmedizin fest im Medizinstudium zu verankern. So lernen die Studierenden nicht nur, wie das Palliativteam körperliche Beschwerden wie Schmerzen oder Atemnot lindert. Sie bekommen auch die Hilfe auf psychischer, spiritueller und sozialer Ebene mit – für Patienten genauso wie für deren Angehörigen.

Abschied und Trauer

Denn auch sie brauchen Hilfe, um Mutter, Vater oder den Partner in dieser schweren Situation zu begleiten. Die Psychologin Sonja Hofmann hilft Patienten und Angehörigen dabei herauszufinden, wie sie mit Erkrankung, Abschied und Trauer umgehen können.

Auch die Klinikseelsorgerin Christine Günther unterstützt bei der Suche danach, was Freude und Hoffnung gibt – unabhängig davon, ob die Patienten besonders religiös sind. Der Förderverein Palliativmedizin macht es möglich, eine Musiktherapeutin zu beschäftigen. Sie lässt Patienten über Klänge in Erinnerungen eintauchen und hilft, seelische Erstarrungen zu lösen. Auch Konzerte und Kabarett auf der Station sind durch den Förderverein möglich.

Zehn Betten hat die Station, auf der im Jahr etwa 350 Patienten behandelt werden. Der Reihe nach bespricht das Team jeden einzelnen Patienten: Wie fühlt er sich? Wie hat er geschlafen? Was erhofft er sich, was seine Familie? Zusammen definieren sie konkrete Wochenziele.

„Um gute palliative Versorgung zu gewährleisten, braucht es auch eine gute allgemeine Versorgung durch Hausärzte, Pflegedienste und Altenheime. Deshalb wollen wir die Aus- und Weiterbildungen stärken“, erläutert Ostgathe. Gerade die Studierenden können so bereits früh lernen, Therapiepläne aufzustellen, und den Umgang mit Patienten üben.

„Nicht jeder kommt mit der palliativen Einstellung gleich zurecht“, sagt die Oberärztin Susanne Weigel. „Bei vielen Patienten wissen wir anfangs noch gar nicht, wohin die Reise geht. Sie sollen hier einen angstfreien Raum haben, um sich zu entwickeln. Wir geben ihnen Sicherheit. Den Takt geben sie dann selbst vor.“

 

Palliativmedizin: Grenzbereich zwischen Leben und Tod

© Roland Fengler

Und hier berichtet eine Studentin:

Im Medizinstudium versucht man uns beizubringen, wie wir Menschen heilen. Denn das ist schließlich das Ziel jedes Arztes: seinen kranken Patienten gesund wieder heimzuschicken oder ihn wenigstens so gut mit Medikamenten zu versorgen, dass er nichts mehr von seiner Krankheit merkt.

Während des Studiums wurden uns die verschiedensten Krankheiten und die zugrunde liegenden Mechanismen vorgestellt. Für manche Klausuren musste man dann noch die Überlebenswahrscheinlichkeit oder auch mal eine Sterblichkeitsrate lernen.

Zum Beispiel, dass bestimmte Arten von Keimdrüsentumoren bei Männern um die 20 auftreten können. Die Prognose ist sehr schlecht, die Lebenserwartung beträgt noch etwa ein halbes Jahr.

Das ist alles so lange abstrakt und ganz weit weg, bis plötzlich der junge Mann vor einem steht, wenig älter als man selbst. Diagnose: Hodenkrebs. Und man weiß: Der hat schon so viele Metastasen im Bauchraum, der wird Weihnachten nicht mehr erleben.

Dann wird einem das Bild von der Berufsgruppe der Ärzte bewusst, wie es auch unter vielen Patienten verbreitet ist: der Arzt als allmächtiger Halbgott, der den Kranken von jeder Krankheit befreien kann. Gerade an einem Uni-Klinikum gilt: Wir machen alles, was machbar ist, aufgeben gilt nicht!

In der ersten Zeit auf der Palliativstation habe ich mir schwer damit getan, von diesem Maximal-Gedanken wegzukommen und das Prinzip der Palliativmedizin zu verstehen: Man verliert nicht, wenn man aufhört zu operieren.

Man verändert nur das Therapieziel. Man trifft die Entscheidungen, dass man einen bestimmten Patienten nicht mehr heilen kann – und das ist wirklich etwas, was einem nicht in einer Vorlesung beigebracht werden kann.

Umso faszinierender war für mich die Erfahrung, dass sich im Moment dieser Entscheidung ein riesengroßes neues Feld an ärztlichen Möglichkeiten, aber auch Pflichten und Chancen ergibt.

Durch die Lehrveranstaltung Palliativmedizin sind meine Kommilitonen und ich hoffentlich besser darauf vorbereitet, solche Entscheidungen zugunsten des Patientenwohls zu treffen. Ich wünsche uns, dass wir den Mut haben, einem Patienten zu sagen, wenn wir seine Krankheit nicht mehr besiegen können. Und dass wir ihnen gleichzeitig versichern, dass wir sie weiter begleiten und unsere Pflicht als Ärzte ernst nehmen: Leiden zu lindern.

Auf einer Palliativstation stehen die Patienten jeweils als Menschen mit ihrer Geschichte und ihrem individuellen Erleben im Mittelpunkt. Natürlich kann die komplexe Arbeit der Palliativstation nicht auf andere Stationen eines Klinikums übertragen werden.

Lehrreiche Zeit

Aber wir Studenten können aus der Palliativmedizin viele Kleinigkeiten in unsere späteren Bereiche mitnehmen – und sei es nur die Visitenkarte vom Palliativmedizinischen Dienst. Ich hatte eine lehrreiche und, um ehrlich zu sein, auch eine sehr schöne Zeit in der Palliativmedizin, in der auch viel gelacht wurde.

Persönlich habe ich zwar die Chirurgie und nicht die Palliativmedizin für mich entdeckt und möchte dort meinen Facharzt machen. Aber gerade deswegen sehe ich meine Zeit auf der Palliativstation als sehr wichtige Erfahrung.

Die Erlebnisse dort, die Beobachtungen, wann es an der Zeit für eine „Therapiezieländerung“ ist, und die Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden sind in jedem medizinischen Fach unglaublich wichtig.

Vor allem bin ich froh, dass ich nun weiß: Ich kann meine zukünftigen Patienten im Zweifelsfall, wenn ich kurativ nichts mehr für sie tun kann, sehr guten Gewissens an die Palliativmedizin überweisen. Dort wird man sich sehr gut um sie kümmern.

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