Rapunzel, lass dein Haar herunter !

27.8.2015, 16:24 Uhr
Rapunzel, lass dein Haar herunter !

© Uni Stuttgart

Mit einem Ruck starten die Maschinen. Adrenalin schießt durch John Clarkes Adern, lässt seine Hände zittern, während er das Startsignal gibt. Nie hätte er geglaubt, die Vision seines Urgroßvaters verwirklichen zu dürfen - den Traum, mit einem Fahrstuhl zu den Sternen zu fahren.

91 000 Kilometer Kabel hängen über ihm. Ein weiterer Ruck, und die Fahrstuhlkabine hebt vom Boden ab. Die mehrtägige Reise zur Satellitenstation beginnt.

„Weltraumlift, das ist sicherlich nicht jedem ein Begriff,“ sagt Prof. Manfred Kottcke von der Technischen Hochschule (TH) Nürnberg. „Damit gemeint ist ein Satellit, der durch ein langes Kabel mit der Erdoberfläche verbunden ist.“

Der Satellit kreist auf einer Umlaufbahn in 36 000 Kilometern Höhe. „Das ist sehr hoch“, erklärt Kottcke. „Die Bahn der Internationalen Raumstation ISS hat etwa eine Höhe von 400 Kilometern.“

Der als „Vater der Raumfahrt“ bekannte Konstantin Ziolkowski schlug den Bau eines Weltraumlifts bereits vor über 100 Jahren vor. Die Idee kam dem Russen, als er im Zuge der Weltausstellung 1895 in Paris den Eiffelturm beobachtete.

Knapp ein Jahrhundert später gewann der „Fahrstuhl zu den Sternen“ durch das gleichnamige Buch von Arthur C. Clarke an Bekanntheit. Der Autor war sicher: „Der Weltraumlift wird gebaut werden, etwa 50 Jahre nachdem alle aufgehört haben zu lachen.“

Inzwischen ist der Lift in der Wissenschaft angekommen. Es gibt jährliche Konferenzen und „Challenges“, auf denen Wissenschaftler versuchen, die Entwicklung des Weltraumlifts voranzubringen.

Der Ausblick auf die Erde lässt unseren fiktiven Helden John Clarke den Atem anhalten. Die Fahrstuhlkabine hat die Höhe der ISS überschritten. Noch immer wird die Gondel, die über einen Roboterarm am Kohlenstoffseil befestigt ist, gleichmäßig beschleunigt.

Zwei leistungsstarke, an der Bodenstation befestigte Laser strahlen auf Solarmodule unter der Kabine und versorgen diese mit Energie. Während die Gondel an Höhe gewinnt, bleibt dem Passagier nichts weiter zu tun, als die Aussicht auf den blauen Planeten zu genießen.

In einer Machbarkeitsstudie des Nasa Institute for Advanced Concepts (NIAC) schreibt der Physiker Bradley Edwards: „In Anbetracht der Situation halten wir das Hochbeamen von Energie für die einzig realistische Methode.“ Dieses „Hochbeamen von Energie“ könnte entweder mittels Laser oder über Mikrowellen geschehen. Beide Technologien wurden über geringere Entfernung bereits erfolgreich angewendet.

Weniger fortgeschritten sind Entwicklung und Bau des Kabels. „Das Gleichgewicht von Flieh- und Schwerkraft gilt nur für einen Punkt des Kabels. An allen anderen Punkten muss es durch Zugkraft gehalten werden“, erläutert Physiker Kottcke. Damit der Satellit nicht vom Gewicht des Seils aus der Bahn gezogen wird, braucht er – neben der 36 000 Kilometer langen Verbindung zum Boden – auch noch ein Gegengewicht.

In Edwards NIAC-Studie wurde für das Kabel eine Gesamtlänge von 91 000 Kilometern errechnet. Das ist etwa ein Viertel der Entfernung zwischen Erde und Mond. „Vom Material her halte ich das Ganze noch für absolute Zukunftsmusik“, meint Prof. Kurt Beinborn, Dekan der Fakultät Werkstofftechnik an der TH Nürnberg.

Ein Stahlseil würde bereits bei einer Länge von wenigen Kilometern unter seinem Eigengewicht reißen. „Die spezifische Festigkeit des Materials muss außerordentlich hoch sein“, erklärt Beinborn weiter. „Dafür sind Kohlenstoffmaterialien prädestiniert.“

Kohlenstoff-Nanoröhren etwa haben eine Festigkeit, die über hundertmal größer ist als die von Stahl. Die Röhren bestehen aus einer sehr dünnen Kohlenstoffschicht, die zusammengerollt nur 50 Nanometer Durchmesser hat. Ein Haar ist mehr als tausendmal so dick.

Allerdings sind die Röhrchen nur wenige Zentimeter lang. Bis sie in Kilometerlänge herstellbar sind, „wird es noch Jahrzehnte dauern“, sagt Beinborn.

Im Gegensatz zum Kabel bereitet die Bodenstation weniger Probleme. Eine mobile, äquatornahe Plattform , die auf dem Meer schwimmt, lässt Bewegungen von Satelliten und Bodenstation zu. Somit erfüllt sie alle nötigen Anforderungen.

„Aufgepasst John!“, meldet sich die Bodenstation: „Wir müssen einem defekten Satelliten ausweichen. Vielleicht wird es da oben ein wenig ungemütlich.“ Obwohl ihn niemand sehen kann, nickt John vor sich hin. Er hatte es kommen sehen.

Weder das Seil noch der Satellit dürfen von einem im Orbit herumfliegenden Geschoss getroffen werden. Die Bodenstation versetzt das Seil in Schwingung, um dem Weltraumschrott auszuweichen. Sind alle Berechnungen korrekt, sollte John nichts passieren.

„Weltraumschrott ist vor allem für den Satelliten eine Gefahr. Da das Kabel sehr dünn sein würde, halte ich die Chance einer Kollision für eher gering“, sagt der Physik-Professor Kottcke. „Die Wettereinflüsse auf das Kabel halte ich allerdings für erheblich.“ Sowohl hohe Windgeschwindigkeiten als auch Blitze können das Seil stark beschädigen.

Da Kohlenstoffmaterialien in Faserrichtung eine ähnliche Leitfähigkeit haben wie Metalle, ist das Seil ein idealer Blitzableiter. „Hier müsste man sich eine Lösung überlegen. Eine Beschichtung wäre denkbar, würde das Kabel aber wieder schwerer machen“, sagt Beinborn.

Bei all diesen Schwierigkeiten ist der Raum für Fehler gering. Die Kosten für den Weltraumlift liegen, laut Edwards, im zweistelligen Milliardenbereich.

Doch der Aufwand würde sich lohnen. Im Moment sind Weltraummissionen teuer. Das Gewicht, das Raketen tragen können, ist begrenzt. Ein Kilo Nutzlast kostet mehrere 10 000 Euro. Ein Lift könnte dieselbe Masse für wenige 100 Euro ins All bringen. Der Aufzug würde ein neues Weltraumzeitalter für die Menschheit einläuten.

 

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