Zu Besuch in einer Welt, die keine Maße braucht

24.7.2015, 17:38 Uhr

(Platzhalter))Ich sitze in einem Klassenzimmer mit neun Schülern. Nach den Maßstäben dieser Schule ist das Zimmer ziemlich voll — an einer anderen Schule wäre eine solche Klasse kaum zu finden. Schon allein in dieser Hinsicht unterscheidet sich das „Yirara College“ von anderen Schulen.

Aber es gibt noch mehr Unterschiede: zum Beispiel, dass das College im Herzen Australiens liegt, in Alice Springs, der 28 000 Einwohner zählenden „Metropole“ Zentralaustraliens. Die Schüler sind allesamt Ureinwohner. Sie leben über das gesamte Northern Territory verteilt. Das ist ein Staat in Australien, der etwa die vierfache Fläche Deutschlands umfasst, aber nur 220 000 Einwohner hat — etwa so viele wie Fürth und Erlangen zusammen.

Die Schüler leben mit ihren Familien in sogenannten „Remote Communities“ (abgelegenen Gemeinden). Diese kann man mit kleinen Dörfern vergleichen, allerdings mit dem Unterschied, dass die nächsten Nachbarn einige hundert Kilometer entfernt leben.

Nun sind die Schüler in die „Großstadt“ Alice Springs an das Internat gekommen. In ihren Communities sind sie zwar meist zur Schule gegangen, doch ihr Niveau entspricht nicht demjenigen europäischer 12- bis 18-Jähriger.

Erkenntnis mit Tiefgang

Seit zehn Monaten bin ich nun schon in Alice Springs, wo ich einen Freiwilligendienst leiste. Organisiert wurde das Ganze vom Internationalen Evangelischen Jugendfreiwilligendienst mit der Mission Eine Welt. Für dieses Programm arbeite ich an dieser Schule. In den Ferien habe ich auch für einige Zeit in solchen Communities gelebt. Deswegen kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass dieses Thema noch viel tiefer geht.

Ich helfe im Unterricht der Oberstufe, motiviere Schüler zum Arbeiten, gehe mit ihnen Aufgaben durch, beantworte Fragen und versuche, in Einzelarbeit Lücken zu füllen.

Australien ist ein sehr privilegiertes Land — ähnlich wie Deutschland. Trotzdem kommen diese Kinder hierher mit kaum vorhandener Schulbildung. Bei einigen muss ich mich erst einmal bemühen, ihnen richtig Lesen und Schreiben beizubringen. Die Kinder Ureinwohner stammen aus einer anderen Welt — aus einer Welt der Wüste, des Jagens, des Geschichtenerzählens, der Freiheit und der Familie. Es ist aber auch eine Welt der Armut und der Sozialhilfe.

Dann kommen sie ans College, in diese für sie völlig neue Welt. Eine Welt der Weißen, der Struktur, der Pünktlichkeit, der Stundenpläne und der Arbeitsblätter. Das ist alles andere als leicht. Viele Schüler haben große Probleme, vermissen ihre Familie, fühlen sich einsam, haben Aufmerksamkeitsdefizite oder Lernstörungen, die nie diagnostiziert werden.

Doch während ich versuche, ihnen zu helfen, in der westlichen Welt zurecht zu kommen, lerne ich auch einiges über ihre Welt. Und das, was ich erfahre, fasziniert mich ungemein.

Es ist Mathematik-Unterricht in der 10. Klasse, es geht um „Estimation“ — zu deutsch: schätzen, einschätzen, abschätzen. Also setze ich mich zu einer neuen Schülerin und helfe ihr beim Schätzen. Sie ist ein offenes Mädchen, sie spricht mich gerne an, redet mit mir, will immer, dass ich mich zu ihr setze, mit ihr arbeite und bei ihr bleibe. Sie spricht sehr, sehr leise, meist ist es nur ein Flüstern.

Erste Aufgabe: Wie lange hat der schnellste Mensch der Welt für seinen Rekord-100-Meter-Sprint gebraucht? Erst einmal Stille. „Vielleicht 15?” „15 was?“, frage ich zurück. „15 Sekunden, Minuten, Stunden, Jahre?“

Sie lächelt und murmelt: „15 Minuten?” „Hm“, meine ich. „Aber 100 Meter sind nur etwa so lang wie von der Cafeteria zu deinem Schlafgebäude. Braucht man dafür 15 Minuten, wenn man sich ganz arg beeilt? Eher nicht, oder?“

50-Minuten-Sprint

Sie schaut mich wortlos an. Ein anderer Schüler ruft mich, ich gehe kurz weg. Als ich wiederkomme, steht auf dem Blatt „50 Minuten”. Ich sage nichts. Es ist ihre Schätzung, und wir widmen uns der zweiten Aufgabe: Wie groß ist Buddy Franklin?

Auf meine Frage, wer das denn sei, erklärt sie mir: ein „Fotty“(Australian Football)- Spieler. Ach, der sei wohl sehr groß? „Nein, sehr klein.“ „Okay, wie groß denkst du, dass er ist?“, frage ich. „100 Meter?“, kommt als Antwort. „Hm, also ich bin etwas über 1,70 Meter groß“, erläutere ich. „Wenn der 100 Meter groß wäre, wäre er wirklich ziemlich groß!“ Später erfahre ich, dass Buddy Franklin tatsächlich sehr groß ist und knapp zwei Meter misst.

Also die nächste Aufgabe: Wie viele Leute leben in Alice Springs? „So 350?“, flüstert sie. Wie weit ist es von dort nach Darwin? Das ist eine Strecke von mehr als 1500 Kilometern. Ihre Schätzung: 1000 Meter. Die einzige Frage, die die neue Schülerin mit ziemlicher Sicherheit beantwortet, ist die, wie viel 22 Würstchen im Supermarkt kosten. Ihre geschätzten 10,50 Dollar sind am echten Preis von sieben Dollar nicht weit vorbei.

Das ist die einzige Frage, die für das Mädchen einen Realitätsbezug hat. Mit ihm zu arbeiten, fand ich sehr eindrucksvoll, sehr erhellend. Wir leben in dieser Welt und messen alles um uns herum, packen es in die uns geläufigen Messsysteme.

Ich schaue eine Tür an und weiß, dass sie zwischen zwei und zweieinhalb Meter hoch ist. Ich kann grob schätzen, wie lange eine gelaufene Strecke ist, wenn ich um mich blicke, macht die Welt in unseren rationalen Systemen Sinn.

Wir haben die Welt vermessen und kategorisiert. Wir bewegen uns in diesen Kategorien wie ein Fisch im Wasser. Wir lernen sie von klein auf so kennen, und sie sind der Rahmen unseres Lebens. Es ist für uns unglaublich schwer, sich vorzustellen, dass dem nicht so wäre. Dass ich nicht weiß, wie lang ein Meter ist, und wenn es mir jemand zeigt, trotzdem nicht wirklich begreifen kann, wie lang dann 20 Meter sind. Dass ich nicht weiß, dass ein Dollar aus 100 Cent besteht, dass ich die Uhr nicht lesen oder die Zeit nicht messen kann.

Dass es nicht meine Kategorien sind, sondern andere, fremde, die für mich alles andere als Sinn ergeben. Ich habe bei all diesen Fragen versucht, ihr das zu erklären, zu verdeutlichen und anschaulich darzustellen. Aber ein wirkliches Verständnis lässt sich eben nicht herbei-erklären.

Einfach sehr lange

Ganz oft höre ich auch die Frage: „Miss, how many more minutes?” (Wie viele Minuten noch?) Dann schaue ich auf die Uhr an der Wand — Armbanduhren zu tragen, habe ich hier schon lange aufgehört — und übersetze: noch 30 Minuten, noch 20 Minuten, noch zehn. Allein diese Messung der Zeit, die uns allen beinahe schon im Blut liegt, allein das ist für die meisten hier fremd, fremdartig.

Zu Beginn hab ich immer gefragt, wie lange es für die Schüler gedauert hat, von ihrer Community nach Yirara zu kommen. Selten erhielt ich eine Antwort. Wenn ich aber einfach gefragt habe: „Sehr lange?” Dann kam ein überzeugtes: „Ja!”

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