Sehnsucht nach verfolgter Freiheit

15.11.2010, 07:05 Uhr
Sehnsucht nach verfolgter Freiheit

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„Ich bin ein Redner.“ Reden oder Predigten formulieren ist eine Sache, Erinnerungen und Reflexionen über das Erinnerte zu Papier zu bringen, fiel dem prominenten Pastor ungleich schwieriger. Denn schließlich steckt hinter einem 70-jährigen Leben, das 50 Jahre lang von Täuschung und Betrug dominiert wurde, eine Menge Trauerarbeit.

„Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ heißen die Memoiren. Nicht nur das Wetter schlägt Kapriolen, auch die menschliche Gefühlslage. Ist Heimat „der Ort früher Leiden“, wie es Walter Kempowski formuliert hatte, und gegen den Joachim Gauck opponiert? Vielleicht eher der Ort der ersten Lebenslüge? Gauck beschreibt Momente einer glücklichen Kindheit bei seiner Tante Marianne. Jene Momente zu Beginn der Fünfzigerjahre zählen für ihn doppelt so glücklich, da ein Jahr zuvor sein Vater abgeholt und zu 50 Jahren Sibirien verurteilt worden war. Die Lücke, die sein Vater hinterließ, das jahrelange Hoffen und Bangen der Mutter, etwas in Erfahrung zu bringen, nagen an der Seele. Aber: „Ein Verhängnis kann man nur dann ertragen, wenn man die Normalität wieder in Gang setzt.“ Nach dieser Devise funktioniert die Familie Gauck, funktioniert auch der Vater, als er nach vier Jahren zurückkehrt, fast ohne Zähne und fremd geworden. Man bleibt daheim, in der DDR. Die DDR war erträglich, solange die Grenze nach Westen noch offen war. Erst nach dem Mauerbau entstand für Gauck „das richtige DDR-Gefühl“, eine geschlossene Burg, in der der Burgherr nach Gutdünken herrschte; in der Besucher aus dem Westen über den Westen klagten und den Ossis die Vorzüge des Sozialismus erklärten; in der Strandgänger angespülte Bommerlunder-Flaschen als Trophäen ins Zimmer stellten.

Dem Abschiedsschmerz über Menschen, die resignierten und flüchteten, stand der Trotz gegenüber, auszuhalten und doch noch einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz durchzusetzen. Das ging so lange gut, bis der Riss in Gaucks eigener Familie klaffte. Zwei Söhne reisten 1987 aus, weil ihnen das Abitur verweigert wurde, eine Tochter, die bleiben wollte, folgte der Liebe wegen.

Wenn Joachim Gauck zurückblickt, verspürt er ein zwiespältiges Gefühl. Er vermisst die DDR überhaupt nicht, er genießt die Freiheit und Gültigkeit der Menschenrechte des Westens. Doch was er vermisst, das ist die Intensität der Sehnsucht nach Freiheit, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Nische mit den Verfolgten und Gleichgesinnten, die das Leben trotz oder gerade wegen der Oppressionen wertvoll machte. Mit anderen Worten: Die Sehnsucht hat ihr Ziel verloren, als sie ihr Ziel erreicht hatte: die Freiheit.

Klingt paradox? Wer im Westen aufgewachsen ist und seine Grundrechte von Anbeginn in Anspruch nehmen konnte, vermag diesen Zwiespalt nur schwer nachzuvollziehen.