Mit der Schlagkraft der Erinnerung

16.11.2018, 16:30 Uhr
Mit der Schlagkraft der Erinnerung

© Foto: Schreiter

Der Nacken tut noch immer ein wenig weh. Doch vielmehr schmerzt die Erinnerung. "Der Ringarzt und mein Trainer", sagt Obeidollah Mirzaie, "haben mich nicht antreten lassen im Finale. Deshalb bin ich jetzt nur Vizemeister. Das war vernünftig, aber es tut trotzdem weh – nicht nur im Nacken. Ich bin mir sicher, ich hätte gewonnen."

Zum dritten Mal bereits trat Mirzaie bei Deutschen Nachwuchs-Meisterschaften im Boxen an, bei den U19 gewann er, nun, bei den U21-Meisterschaften, wurde er für den TV 48 Erlangen Deutscher Vizemeister – sein Gegner gewann letztlich kampflos. Zuvor hatte Mirzaie schon einmal gegen ihn gekämpft und gewonnen. Diesmal stoppte ihn die hartnäckige Nackenverletzung.

Seit einem halben Jahr schon quälen ihn die Schmerzen. Fünf- oder sechsmal, erzählt Obeidollah Mirzaie, war er bereits deshalb beim Orthopäden. Nun steht ein weiterer Termin in der Radiologie an – eine Ursache wurde bislang noch nicht gefunden.

"Ich habe mich beim Sparring verletzt, aber dann die Zähne zusammengebissen und weiter geboxt. Das war ein Fehler." Um diese Verletzung auszukurieren, hätte er eine Pause vom Boxen einlegen müssen – "aber wenn ich nicht boxe, kann ich nicht schlafen", sagt er.

Leidenschaft und Ventil

Für Obeidollah Mirzaie, der aus Afghanistan stammt und vor drei Jahren ganz allein nach Deutschland kam auf der Flucht vor dem Krieg und den Taliban, ist Boxen mehr als nur ein Sport. Es ist seine Leidenschaft, sein Ventil, seine Ersatzfamilie. "Das erste, wonach ich fragte, als ich nach Deutschland kam, war: Wo kann ich boxen?", erzählte er einmal.

Man schickte ihn zum Turnverein 1848 ins Boxtraining von Igor Krotter in die Schulturnhalle West. Sechs Monate später war Obeidollah Mirzaie Bayerischer Meister der U18. Mittlerweile kamen zwei weitere Bayerische Meistertitel dazu.

"Mein Traum sind Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele", sagt er. Doch aufgrund seiner ungeklärten Aufenthaltserlaubnis darf er nach wie vor Deutschland nicht verlassen. So konnte er bislang auch noch nicht im Ausland boxen – trotz zahlreicher Einladungen nach England, Russland, Tschechien, Österreich, Spanien und die Schweiz.

Zwei- bis dreimal Training täglich

Was bleibt ist die nationale Konkurrenz, die er in seiner Alters- und Gewichtsklasse beherrscht. Dafür arbeitet er hart: Zwei- bis dreimal täglich trainiert Mirzaie, "nur sonntags", sagt er, "mache ich eine Pause". Der Alltag besteht vor allem aus Arbeit – nach dem Hauptschulabschluss begann der Boxer eine Ausbildung zum Hotelfachmann beim Gasthof Polster in Kosbach – und Sport. Kontakt zu seinen Eltern und dem älteren Bruder, über den er in der Heimat zum Boxen kam, hält er über das Internet. "Zu Hause", sagt Obeidollah Mirzaie, "herrscht nach wie vor Krieg. Die Verbindung ist schlecht." So hat er seine Familie seit seiner Flucht vor über drei Jahren nicht mehr gesehen. Nur den Vater einmal, ganz kurz, als es ein wackeliges Videochatbild bis zum Sohn schaffte. "Er sieht müde aus und traurig. Und er ist älter geworden", sagt Mirzaie. Auch er selbst ist mittlerweile erwachsen geworden. Mit einem Anwalt kämpft er um sein Bleiberecht, er würde gern die Ausbildung in Deutschland beenden. Und mit den Fäusten um seinen sportlichen Traum.

"Meine Eltern waren stolz, als ich ihnen von dem Wettkampf erzählte. Aber sie sagen immer auch: Wichtiger ist die Schule, wichtiger ist die Ausbildung. Und über allem steht deine Gesundheit." Deshalb, sagt Obeidollah Mirzaie, muss er sich jetzt darum kümmern, dass sein Nacken endlich gesund wird. Er hat es der Familie versprochen und sich selbst. Mit der Vizemeisterschaft jedenfalls soll der Boxtraum noch lang nicht vorüber sein.

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