Nürnbergs Fechter erleben kleine Revolution
19.11.2014, 09:24 UhrEs sieht ein bisschen nach einem Ärztekongress aus, der außer Kontrolle geraten ist: Dutzende in Weiß gekleidete Menschen wuseln durch den Raum, doch anstatt Fachgespräche zu führen, haben die Ärzte lieber zum Säbel gegriffen und tragen nun ihre Meinungsverschiedenheiten auf der Planche aus. Wer nicht aufpasst, läuft Gefahr, über ein Kabel zu stolpern, das die Duellanten mit der elektronischen Trefferanzeige verbindet, dem Kampfrichter die Sicht zu nehmen oder gleich selbst mitten in eines der zahlreichen Gefechte zu geraten.
Dass es sich doch nicht um einen Ärztekongress handelt, der den Pfad der gewohnten Umgangsformen verlassen hat, wird wenige Augenblicke später klar, als man auf Tobias Hell trifft. Wenn er in der Nähe ist, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Veranstaltung des Nürnberger Fechterrings. Mit Großveranstaltungen kennen sie sich aus. Gerade war Hell noch zu Gast im Rathaus, der Verein hat mal wieder eine Auszeichnung bekommen. "Für die Bewegungsangebote zur Mitgliedergewinnung und Mitgliederbindung" lautet die etwas umständliche Formulierung auf der Urkunde, die Hell bei sich trägt und die weniger wegen den darauf notierten Buchstaben, sondern eher wegen den darauf notierten Zahlen von Bedeutung ist.
222 Teilnehmer beim "Nürnberger Trichter"
Für die gelungene Organisation der Bayerischen Schulmeisterschaften hat die Stadt dem Fechterring noch einmal einen Preis verliehen, der sich vor allem auf dem Vereinskonto gut sehen lässt. Viel Zeit, die Urkunde zu begutachten, hat Hell allerdings nicht, es gilt ja bereits, die nächste Großveranstaltung in geordnete Bahnen zu lenken. Der Fechterring hat zum "Nürnberger Trichter" in die Dreifachturnhalle der Ludwig-Uhland-Schule geladen und eigentlich hätten sie auch locker eine weitere Halle füllen können. 222 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sie am Ende dieses vielleicht längsten Wochenendes des Jahres gezählt. Aus ganz Deutschland, Tschechien, Österreich, sogar aus Mexiko sind die Gäste angereist, um sich über ihren eigenen Leistungsstand zu informieren. 222 Fechter, die viel Motivation mitgebracht haben und noch mehr Fragen. Um die Antworten muss sich nun Hell im Minutentakt bemühen.
Dass das (geordnete) Chaos bei der 18. Ausgabe des "Nürnberger Trichters" noch ein wenig größer ist als in den Jahren zuvor, haben sie sich allerdings selbst zuzuschreiben. Sie wollten es ja nicht anders. Zusammen mit den Veranstaltern der Turniere in Künzelsau und Eislingen hat der Fechterring sich auf ungewohntes Terrain begeben. Sie haben den Turniermodus radikal verändert, eigentlich haben sie ihn, das darf man ruhig so sagen, sogar revolutioniert. Der Unterschied zu konventionellen Turnieren besteht vor allem in zwei Veränderungen: Zum einen wurde der gewohnte K.o.-Modus abgeschafft, was zur Folge hat, dass die Teilnehmer deutlich häufiger antreten dürfen. Gerade für die jungen Fechter bringt das mehr Spaß und mehr Übungseinheiten. Zum anderen, und das ist der weitaus größere Einschnitt, fließen beim Nachwuchs nicht mehr nur die Fechtkünste ins Endergebnis ein, sondern auch die Leistung bei einigen allgemeinsportlichen Übungen.
Bevor die Fechter auf den mit weißen Klebestreifen improvisierten Bahnen aufeinander losgelassen werden, müssen sie zunächst bei fünf Stationen Punkte sammeln. Mit kleinen Sandsäcken wird ein Zielwerfen absolviert, die jungen Sportler müssen sich an der Sprossenwand festklammern, müssen aus dem Stand möglichst hoch springen, sie machen Dehnübungen und lassen einen Ball prellen. Es geht um Kraft, Koordination und Beweglichkeit. Am Ende fließen die hier gesammelten Punkte zu 50 Prozent in die Gesamtwertung ein, die anderen 50 Prozent werden mit dem Säbel erkämpft. "Wir haben lange Zeit den Fehler gemacht, uns nur auf das Fechten zu konzentrieren", sagt Tobias Hell. Für eine lange und erfolgreiche Sportlerkarriere sind aber auch andere Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung, außerdem glaubt Hell, dass sich mehr Jugendliche für den Sport begeistern lassen, wenn nicht alles ausschließlich auf die Fecht-Ergebnisse reduziert wird. Mitgliedergewinnung durch Bewegungsangebote sozusagen.
Ohne Purzelbaum kein Gold
Julian Bielenberg, Trainer beim Fechterring und derzeit in der Diplomtrainer- Ausbildung an der Sporthochschule in Köln, hat den neuen Turniermodus maßgeblich vorangetrieben. "Wenn die Jugendlichen mit 16 Jahren keinen Purzelbaum können, dann wird aus ihnen später wahrscheinlich auch kein Olympiasieger", sagt er. Die grundlegenden Fähigkeiten sind beim Fechten lange vernachlässigt worden, findet Bielenberg, nun hat ein Umdenken eingesetzt, auch der Fechter-Bund unterstützt das Vorhaben.
Unter den Traditionalisten ist der neue Turniermodus dagegen nicht überall auf Begeisterung gestoßen. Manche Eltern haben im Vorfeld ein lautes Grummeln durch den Hörer nach Nürnberg geschickt, erzählt Tobias Hell, gekommen sind die meisten am Ende trotzdem. Paula Singer und Leon Schlaffer sind natürlich auch gekommen, sie hatten es ja nicht so weit. Die beiden 14-jährigen Talente des Fechterrings hatten am Wochenende einen Heimvorteil und nutzten ihn. Singer gewann in ihrer Altersklasse nicht nur das letzte entscheidende Gefecht, sie wurde auch bei den allgemeinsportlichen Übungen Erste. Das gelang auch Schlaffer, den lediglich auf der Planche am Ende etwas das Glück verließ.
Irgendwann will Bielenberg einmal die Ergebnisse vergleichen können. Im Idealfall sind dann die besten bei den Basisübungen auch langfristig die besten auf der Planche. "Nur so werden wir Spitzenleistungen erzielen", glaubt er, "und zur Gesundheit trägt es ebenfalls bei". Auf einem Ärztekongress wären sie wohl begeistert vom neuen Turniermodus.
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