Nürnbergs Meisterrezept: Über die Außenbahnen zum Erfolg

5.5.2018, 17:08 Uhr
Nürnbergs Meisterrezept: Über die Außenbahnen zum Erfolg

© Kurt Schmidtpeter

Gut: Mannschaftsbesprechungen dauerten nicht wie heute bis zu einer Stunde, an intensives Videostudium des Gegners war freilich noch nicht zu denken, niemand sprach davon, Kopfbälle zu "magnetisieren" oder den "Deckungsschatten zu optimieren".

Doch völlig planlos gingen die Spieler auch vor 50 Jahren nicht auf den Platz: Defensiver Grundsatz und spielerisches Kernprinzip der Zeit war die Manndeckung. Jeder Spieler hatte seinen Gegenspieler und folgte diesem auf dem Platz, egal wohin. Das Spiel war also viel mehr als heute in kleine Einzelduelle unterteilt. Daraus folgt natürlich auch, dass die individuelle Stärke der Einzelspieler wesentlich entscheidender für den Erfolg einer Mannschaft war, als das heute der Fall ist. In der Regel gewann die Elf mit den besseren Individualisten.

Durch dieses Kernprinzip war die Notation einer Grundformation, wie man sie heute kennt, Nebensache. Es gab keine Raumdeckung, also war die Frage, ob 3-5-2, 4-2-3-1 oder 5-2-3 auch nicht zielführend. Diese Tatsache führte zu einigen Kuriositäten: Notiert wurde die Aufstellung auch in der NZ noch in einem 2-3-5 – einer Pyramidenformation aus den Anfangstagen des Fußballs, die spätestens seit den 40er Jahren aus der Mode gekommen war. Die Positionsbezeichnungen wie "Mittelläufer" unter Journalisten und Fans kamen dagegen aus dem WM-System, heute spräche man von einem 3-2-2-3. Diese Formation hatte die 50er und frühen 60er Jahre beherrscht, mit ihr war Deutschland 1954 Weltmeister geworden.

"Eine in der Tat recht moderne Spielidee"

Die Realität sah dagegen wieder anders aus: "Nur die wenigsten Teams spielten noch in der WM-Formation. Ende der Sechziger war das Doppelstopper- System das Standardsystem in Deutschland. Doppelstopper bedeutete schlicht, dass vor dem zentralen Abwehrspieler in der alten WM-Formation ein weiterer Abwehrspieler installiert wurde." So erklärt Taktikhistoriker und Buchautor Tobias Escher ("Vom Libero zur Doppelsechs") im Gespräch mit der NZ die Entwicklung auf dem Feld. Würde man diese Formation heute notieren, man spräche von einem 1-3-2-4.

Dass der 1.FC Nürnberg 1968 in alle drei Notationsvarianten passt und je nach Gesprächspartner diese auch angewendet werden, zeigt, dass Leupolds Frage, ob es denn damals eigentlich Taktik gab, durchaus eine Realität abbildet. Durch die Manndeckung ist das Niederschreiben fixer taktischer Systeme letztlich Spielerei. Jener Spielerei fügt Leupold selbst im Gespräch eine vierte Variante hinzu: Gebeten, die Meistermannschaft auf einem Spielfeld einzuzeichnen, zeichnet der 76-Jährige ein 1-4-2-3.

In seiner Variante verstärkte der 1.FCN nämlich die Idee des Doppelstoppers sogar noch und spielte mit zwei Spielern (Ferschl, Ludwig Müller) vor dem Stopper (Wenauer), dem tiefstehenden zentralen Verteidiger. Auch wenn die Terminologie noch nicht erfunden war, im Prinzip agierte der Club also schon mit Libero und Vorstoppern, auch wenn die Bezeichnung Libero für den defensiven Wenauer sicher übertrieben ist. Die von Leupold aufgeschriebene Formation sei nominell eine "sehr defensive Formation für die Zeit, wobei fünf Mann in der Defensive Ende der Sechziger tatsächlich schon verbreitet waren," meint Tobias Escher.

In jener Formation spielte der Club offensiv mit drei Stürmern – Linksaußen Volkert, Mittelstürmer Brungs und Rechtsaußen Cebinac – und zwei dahinter agierenden Halbstürmern (Strehl und Heinz Müller/Starek), die man heute wohl eher als offensive Mittelfeldspieler bezeichnen würde. In der Abwehr agierten auf den Außen Fritz Popp auf links und Leupold selbst auf rechts. Sie spielten das, was man heute als Außenverteidiger bezeichnen würde. Dabei legten die beiden Verteidiger ihre Rollen sehr unterschiedlich aus. Popp blieb der Defensive treu, interpretierte den Verteidiger defensiv, beschränkte sich auf die Manndeckung. Leupold hingegen agierte in vielerlei Hinsicht schon als Außenverteidiger moderner Prägung: Immer wieder schaltete sich der damals 25-Jährige ins Angriffsspiel ein und hinterlief seinen Vordermann, den Serben Cebinac. Dadurch erhielt die nominell eher defensive Grundformation eine überraschende Wendung.


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Denn diese "in der Tat recht moderne Spielidee, die Nürnberg verfolgt hat" (Escher), ermöglichte zwei Dinge: Zum einen kam Leupolds Flankenstärke zur Geltung, zum anderen zwang das Prinzip der Manndeckung den gegnerischen Stürmer, der zur Bewachung Leupolds abgestellt war, ins Defensivspiel. Die Folge war, dass dem Stürmer auf Grund des ständigen Nach-hinten-Arbeitens oft die Kondition fehlte, um im Angriff noch viel zustande zu bringen. Daher ist die Wirksamkeit dieser Idee nicht nur an den fünf Torbeteiligungen Leupolds (ein Tor, vier Vorlagen) zu messen, sondern auch an den auf Grund des Bindens des gegnerischen Linksaußens verhinderten Toren.

Entstanden sei diese Idee, so Leupold, aber nicht in Max Merkels Gehirn, sondern auf dem Trainingsplatz als Absprache zwischen Cebinac und ihm: "Der 'Cebi' und ich haben uns einfach gut verstanden, und dann haben wir beschlossen, dass wir das ausprobieren." Dass Spieler selbst taktische Pläne erarbeiteten war unter Merkel nach Aussage der Spieler keine Seltenheit. So gab Mittelstürmer Franz Brungs schon vor Jahren zu Protokoll, dass er zusammen mit den Sturmkollegen Cebinac und Volkert vor dem Spiel zusammensaß und die gegnerischen Torhüter analysierte. Je nach Eigenschaften der Torhüterwurde dann die Flankenlänge variiert.

Wie essenziell das Flankenspiel des Clubs in seiner Meistersaison war, lässt sich an einer einfachen Statistik ablesen: Laut den NZ-Spielberichten fielen 34 der 71 Tore des FCN in dieser Spielzeit in Folge von Flanken oder Ecken, 17 davon wurden direkt mit dem Kopf verwandelt. Bester Vorbereiter im Meisterjahr war Rechtsaußen Cebinac, dessen "prächtige Flankenbälle" die NZ schon in der Saisonvorbereitung lobte. Da Torvorlagen erst seit 1988 erfasst werden, lässt sich keine offizielle Zahl an Assists angeben. Aus den NZ-Schilderung der Zeit ergibt sich für Cebinac in der Saison 1967/68 ein Wert von 23 Vorlagen. Damit läge der Serbe über dem offiziellen Bundesligarekord von 22 Torvorlagen, den der Schwede Emil Forsberg von RB Leipzig seit der Saison 2016/17 hält.

Der Fokus auf das Flankenspiel entstand also mehr oder weniger aus Eigeninitiative der Club-Spieler. Die andere Säule des Erfolgs beruhte dagegen auf Merkels Betreiben: hohe Laufbereitschaft und der Fokus auf schnellem Spiel. Schon die Kaderzusammenstellung war darauf ausgelegt. Merkel sortierte seiner Auffassung nach konditionell schwache Spieler wie Tasso Wild und Steff Reisch, zwei Meisterspieler von 1961, aus: "Der athletische Typ ist heute bei Bundesligisten gefragt. Ein Mann wie Reisch war dazu nicht prädestiniert. Er ist konditionell zu schwach und im Spiel zu langsam. Tasso Wild wird es in Berlin nicht weiter bringen, wenn er so weitermacht wie in Nürnberg" (NZ, 27.7.1967).

Franz Brungs betont die Wirksamkeit der Maßnahmen Merkels: "Jahrelang hatte der Club das Mittelfeld unheimlich langsam überbrückt. Steff Reisch passte zu Strehl, der zu Tasso Wild, der Tasso wieder zurück zum Steff und so weiter. Unter Merkel haben wir ein viel schnelleres Mittelfeldspiel aufgezogen." Die Folge war eine Spielweise, welche die NZ im Januar 1968 so beschrieb: "Bestechend war vor allem der Wechsel aus der Defensive zur Offensive. Da gab es keine überflüssigen Schnörkel, kein zeit- und kräfteraubendes Klein-Klein-Spiel, sondern durchweg schnelle, gradlinige Züge, wie sie im modernen Fußball unentbehrlich sind." In heutige Terminologie übersetzt betrieb der Club im Meisterjahr ein schnelles Umschaltspiel. Die Schwächephase des FCN, die vor allem im März mit vier sieglosen Spielen in Serie durchschlug und den Vorsprung phasenweise schmelzen ließ, lässt sich daher auch gut mit einem Verschwinden des Tempos aus dem Spiel erklären.

Mit Cebinacs Form kehrten Tempo und Erfolg zurück

"Von der Stärke des 1.FCN, das flüssige Direktspiel, das in der Vorrunde die meisten Gegner verwirrte und systematisch schachmatt setzte, ist nichts mehr zu sehen. Das Angriffsspiel rollt so langsam und bedächtig ab, dass der Gegner keine Brille braucht, um die Aktionen klar zu erkennen", attestierte da die NZ am 18. März 1968 nach dem 1:1 beim VfB Stuttgart. Als die Geschwindigkeit ins Angriffsspiel zurückkehrte, auch weil Cebinac, der im ewigen Clinch mit Merkel lag, wieder zu Form fand, kehrte auch der Erfolg zurück.

Die letzten zehn Tore des Meisterjahrs lesen sich deshalb dann auch wie eine Zusammenfassung des Erfolgsrezepts: sieben Kopfballtore, acht Treffer nach Flanken, fünf Assists von Cebinac. Bei allem Lob für die stark verbesserte Offensive – der Club steigerte sich von 43 Toren in der Spielzeit 1966/67 auf 71 Treffer im Meisterjahr, Brungs (25 Tore) und Strehl (18 Tore) kamen zu zweit auf so viele Treffer wie die ganze Mannschaft in der Vorsaison – darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der FCN in dieser Saison auch die Abwehr mit den wenigsten Gegentreffern stellte. Die 37 Gegentore waren Vereinsbestwert in der Bundesliga bis ins Jahr 2007; dann erst folgte der nächste Titel, es war allerdings nicht, wie Nürnbergs Oberbürgermeister Andreas Urschlechter im Mai 1968 in der NZ forderte, "bald die zehnte Meisterschaft". Die neunte holte der Club auf Grund einer meisterlichen Mischung aus individueller Stärke in der Defensive, hoher Laufbereitschaft gerade im Umschaltspiel, eigener Stärke bei Flanken und eines taktischen Kniffs, auf den die Spieler selber kamen. Eine wahrhaft meisterliche Mischung.

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