Die Squadra Azzurra: Sehr klug, sehr leidenschaftlich, sehr italienisch

30.6.2016, 13:56 Uhr
Die Squadra Azzurra: Sehr klug, sehr leidenschaftlich, sehr italienisch

© Reuters

Naja, Mister, Sie haben es ja gerade gesagt, mehr war nicht drin. Klar, das ist einzusehen. Die Mannschaft ist eben nicht besser. Bloß, Mister, was heißt das für die Europameisterschaft? So und so ähnlich lauteten die Fragen an Antonio Conte, es waren friedliche Fragen voller Verständnis und Bedauern. Ja, sagte Antonio Conte, das sind unsere Fußballer, bessere haben wir nicht, wo sollten sie auch herkommen.

Das alles liegt keine vier Monate zurück, Italien hatte gegen Deutschland verloren. Wobei, verloren – es war viel mehr als das, 1:4 war es ausgegangen in München, es war die höchste Niederlage gegen Deutschland seit 77 Jahren und die erste seit 1995. Aber, sagte Nationaltrainer Conte, kein Vorwurf an niemanden. Ist halt so.

Dieselbe Szenerie hatte man exakt zehn Jahre zuvor gesehen. "Italia quattro, Germania uno, buona notte" – so verabschiedete der Stadionsprecher in Florenz das Publikum, es war überhaupt nicht ironisch gemeint, musste aber so ankommen: Gute Nacht Deutschland, 1:4 - und das kurz vor der Heim-WM 2006. Die Aussichten: trostlos; bessere Spieler, sagte ein angeschlagener Bundestrainer Jürgen Klinsmann trotzdem, werde er aus denen machen, die er hat. Was man halt so sagt als Klinsmann.

Taktik? Langweilig?

Aber es kam so. Die deutsche Mannschaft spielte sich bis ins WM-Halbfinale, dieselben Spieler waren auf einmal eine viel bessere Mannschaft – und dann fast so gut wie Italien, erst in der Verlängerung siegte der spätere Weltmeister mit 2:0; "ein ganz anderes Deutschland" hatte Italiens Trainer Marcello Lippi gesehen – "ganz wie erwartet", wie er sagte.

Turniermannschaft: Das ist ein sehr deutsches Wort; deutsche Mannschaften konnten noch so schlecht sein, durch Turniere pflügten sie sich notfalls immer. Und notfalls irgendwie. In Italien gibt es kein Äquivalent zum Wort Turniermannschaft – dort ist das selbstverständlich, Italien gewann Turniere, die man als vermeintlicher Außenseiter angegangen war. Wie 2006 – aber nicht irgendwie.

Gerade erst hat Claudio Ranieri erzählt, wie wenig englische Mannschaften mit Taktik anfangen können. Der Italiener Ranieri trainiert Leicester City, mit dem vermeintlichen Absteiger gewann er sensationell die englische Meisterschaft – es war ein Husarenstück, aber auch eine Blamage für einige der teuersten Mannschaften der Welt. Engländer würde man mit Taktik langweilen, sagte Ranieri.

England ist bei der Europameisterschaft gerade gegen Island ausgeschieden, das Drei-Löwen-Team entwickelte nicht die geringste Idee, wie gegen den limitierten, aber taktisch disziplinierten Außenseiter vorzugehen wäre; Island war wie das Leicester City des EM-Turniers. Italien besiegte derweil Titelverteidiger Spanien mit 2:0 – mit jenen Spielern, die gegen Deutschland mit 1:4 untergegangen waren. Nur bildeten die eine viel bessere Mannschaft, selbst italienische Medien, in derlei Dingen bewandert, schwärmten von einer hinreißenden strategisch-taktischen Demonstration.

Angst, hatte Spaniens Andres Iniesta, einer der besten Spieler der Welt, zuvor gesagt, hätten sie vor Italien, "obwohl wir wissen, dass wir die besseren Fußballer sind". Die Italiener blockierten Spaniens Aufbau im Ansatz, wo die Spanier Räume für ihr Kombinationsspiel suchten, waren die schon besetzt. Was gespielt werden würde, wollte Italien bestimmen, dem ehemaligen Außenseiter glückten die Tempowechsel, Spaniens Spiel wirkte deswegen alt und langsam.

Was Italien vorführte, sah nach großer Leidenschaft aus, nach Teamgeist und Opfersinn, das war es auch, aber vor allem war es: Strategie – jenes Mittel, mit dem Jürgen Klinsmann und sein Zuarbeiter Joachim Löw aus einer defensiv bedenklich schwachen deutschen Elf im Sommer 2006 eine Mannschaft formten, die zwar auch mit Kraft und Leidenschaft spielte – ihren Erfolg aber einer fein ausbalancierten Strategie zu verdanken hatte, nicht einer teutonischen Kampf- und Grätschkultur.

Deutschland war auf einmal eine andere Turniermannschaft – eine wie Italien, wo ein Nationaltrainer übers Jahr kaum Zeit bekommt, mit dem Team zu üben. Deswegen beendet Antonio Conte sein Engagement nach diesem Turnier, jetzt führt er noch vor, was man in relativ kurzer Zeit mit taktisch gut geschulten Spielern einstudieren kann. "Sie haben einen Stil, gegen den sehr schwer zu spielen ist", sagte Spaniens Trainer Vicente Del Bosque nach der Lehrstunde.

Bewegungsabläufe, Passmuster, Zuordnungen: Vier Wochen lang hat Conte sein Team darin geschult, auf dem Platz und in stundenlangen Videositzungen, italienischen Fußballern kann man so etwas zumuten. Wie sicher sich diese Mannschaft jetzt fühlt, sieht man, das eine bedingt das andere. "Taktik bringt dich zu einem bestimmten Punkt", sagte gerade der Mittelfeldspieler Emanuele Giaccherini: "Und dann kannst du mit dem ganzen Herzen spielen" – wie 2006, aber auch wie bei der EM 2012, als es Platz zwei wurde, und wie so oft, wenn man den Azurri nicht viel zutraute. Es gehört nicht nur beim Fußball zu den italienischen Tugenden, aus Krisen Kraft zu schöpfen.

Jetzt ist es wieder eine sehr italienische Turniermannschaft – die sozusagen über das Spiel zum Kampf findet. Kein Klischee hat je gestimmt, italienische Defensive verhindert nicht Fußball, ihr Fußball baut darauf auf, der daraus gewachsene Wille machte eine sehr charismatische Mannschaft zum Weltmeister 2006.

Vor zehn Jahren waren Andrea Pirlo, Alessandro Del Piero, Francesco Totti und Fabio Cannavaro die Gesichter der Mannschaft, sie gehörten, anders als die Köpfe der aktuellen Generation, zu den besten Spielern ihrer Zeit – aber dann war es zum Beispiel Fabio Grosso aus Palermo, der Sternstunden erlebte dank einer Mannschaft, in der jeder über sich hinauswachsen konnte. Gianluca Zambrotta, Simone Perrotta: Man lernte sie erst während des Turniers richtig kennen, so wie heute den kleinen Giaccherini, wie Graziano Pelle – Begabungen, die in einem geordneten Kollektiv aufblühen.

Giaccherini, 31, debütierte erst mit 25 Jahren in der Serie A, Pelle wurde lange zwischen Provinzvereinen hin- und hergeschoben, er landete über Stationen in Alkmaar und Rotterdam beim FC Southampton und war schon 29, als ihn Conte vor zwei Jahren in ein gerade bei der WM 2014 krachend gescheitertes Nationalteam berief. "Unsere Idee von Mannschaft" nennt das jetzt Gianluigi Buffon, der mit Juventus und dem Trainer Conte drei Meisterschaften hintereinander gewann, ehe Conte 2014 zum Auswahltrainer berufen wurde.

Basis Turin

In der alten Königsstadt Turin, wo Italien mit der Vereinigung 1861 zur Welt kam, wuchs eine Mannschaft, die dem von Manipulationsskandalen, Fankrawallen und faschistischen Umtrieben geplagten Calcio wieder eine Zukunft gab, ein schöneres Italien – wofür jetzt in Frankreich auch die Nationalmannschaft wieder steht. Der Torwart Buffon ist 38 Jahre alt, zu den Senatoren zählte er aber schon als Weltmeister 2006 – es ist ein Ehrentitel, der mit dem Alter nichts zu tun hat, und wer die Mannschaft für zu alt hält, erliegt dem nächsten einem Klischee geschuldeten Irrtum.

Giorgio Chiellini, der Turm aus Pisa, ist 31, das ideale Alter für einen italienischen Verteidiger. Den "besten Zweikämpfer Italiens" nennt ihn Leonardo Bonucci, sein Nebenmann, 29 Jahre alt und Chefstratege einer komplett bei Juventus eingespielten Abwehrreihe, in der Andrea Barzagli, einst in Wolfsburg überzählig, mit 35 Jahren besser denn je spielt – so klug, dass es selten den energischen Zweikampf braucht. Italiens erstes Turniertor, das 1:0 gegen Belgien, war ein Meisterwerk der aus sicherer Verteidigung heraus inszenierten Offensive: Bonucci spielte einen Musterpass auf Giaccherini, der kunstvoll abschloss.

Es war die Initialzündung, das Team der Unterschätzten aus dem Land eines akuten Fußball-Talentemangels gehört zu den Überraschungen des Turniers – und trifft nun auf Deutschland, eine Turniermannschaft italienischer Prägung, die ihre Spielkultur stetig verfeinert. Besser als Italien? Abwarten, sagte Joachim Löw – vor vier Monaten nach dem 4:1. In Frankreich, vermutete der Bundestrainer, werde man ein anderes Italien sehen. Antonio Conte war da schon gegangen. Zum Arbeiten, wie er sagte.

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