Wo das Glück zu Hause ist - Bedeutung von Stadtteilgeschichte

8.9.2010, 16:23 Uhr
Wo das Glück zu Hause ist - Bedeutung von Stadtteilgeschichte

© Mark Johnston

Fast 20.000 Menschen besuchten im Juni 2009 innerhalb von zwei Wochen eine Ausstellung zur Geschichte Langwassers im Franken-Center. Alle Bildtafeln waren belagert, eifrig wurde diskutiert. Ältere tauschten Erinnerungen aus, Jüngere suchten, was einst dort gewesen ist, wo sie heute leben. Groß war auch der Andrang bei den von der Geschichtswerkstatt Langwasser zur gleichen Zeit veranstalteten Führungen durch den Stadtteil. Und als jüngst eine Internetplattform — www.zeitklick-langwasser.de — zur Geschichte Langwassers eröffnet worden ist, fanden sich in den ersten Tagen bereits über zweitausend Besucher ein.

Bindung an die Heimat

Ein ähnliches Interesse an örtlicher Geschichte ist auch in anderen Stadtteilen zu beobachten. Es hat offensichtlich etwas mit dem zu tun, was man wissenschaftlich als „geografische Identität“ bezeichnet, aber auch schlicht die Bindung an die Heimat nennen kann.

„Heimat ist kein romantischer Mythos“, sagt der Philosoph Ernst Bloch, „sondern der Ort, wo das Glück konkret zu Hause ist.“ Dieses Zuhause ist dort, wo wir leben, wo wir soziale Beziehungen erfahren, wo wir Freunde und Bekannte haben, wo wir uns auskennen, wo wir an jeden Fleck Erinnerungen knüpfen, wo wir durch eigenes Erleben emotional an Straßenzüge, Plätze oder Häuser gebunden sind.

Denkt man näher darüber nach, was einen Stadtteil von den anderen unterscheidet, ihn also zu etwas Einzigartigem, Unverwechselbarem macht, dann kommt man auf einige grundsätzliche Merkmale. Zunächst sind das natürlich das Ortsbild und die Größe des Stadtteils. Auch seine Begrenzung nach außen ist von Bedeutung. Ebenso wichtig sind die Bevölkerung und deren Lebensart. Man vergleiche nur das lebendige, multikulturelle Gostenhof mit dem vornehmen, aber wenig aufregenden Erlenstegen. Eine Rolle spielen auch die lokale Wirtschaftsstruktur und das Image, dasheißt das Bild des Stadtteils und dessen Wertschätzung in den Köpfen anderer. So litt Langwasser lange Zeit unter dem schlechten Ruf des einstigen Sammellagers für illegale Ausländer.

Das alle diese Faktoren vom Ortsbild über die Bevölkerung bis zur Wirtschaftsstruktur verbindende und sogar für Zukunftsvisionen wichtige Merkmal von Stadtteilidentität ist die lokale Geschichte: Das Ortsbild hat sich entwickelt, das Leben im Stadtteil hat seine Geschichte. Und nur wer die Geschichte kennt, kann über die Gestaltung der Zukunft mitreden und mitbestimmen. Das Verhältnis zum Ort, in dem wir aufgewachsen sind oder leben — Heimat oder Wahlheimat —, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität. Die Region, die Stadt und der Stadtteil, in dem wir uns zu Hause fühlen, sind sehr wichtige Faktoren, die unser Selbstbewusstsein und die Ichstärke, unser Denken, Fühlen und Handeln mitbestimmen.

Verschüttete Traditionen

Vor einigen Jahrzehnten wäre es wohl kaum einem Historiker eingefallen, seine Arbeit auf die Geschichte einzelner Stadtteile zu beziehen und auf den Alltag und die Traditionen der Menschen, die dort leben. Eine solche Entwicklung setzte erst am Ende der 60er Jahre ein. Zum einen hing das damit zusammen, dass endlich eine Auseinandersetzung mit dem lange Zeit verdrängten dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 begann und die inzwischen nachgewachsene Generation hierzu auch Einzelheiten in regionalen, örtlichen und biografischen Zusammenhängen wissen wollte. Daneben suchten viele Menschen, die jahrelang ihr Selbstwertgefühl eher aus den ökonomischen Erfolgen des allmählich bröckelnden „Wirtschaftswunders“ geschöpft hatten, nach neuen, Identität stiftenden Werten. Dabei wandten sie sich sehr stark den in der Nazizeit verschütteten Traditionen und Erinnerungen zu und bezogen sich dabei ebenfalls auf die örtliche Geschichte und die „kleinen Leute“. Zusätzlich trat in dieser Phase eine neue Historikergeneration auf, die neben der universitären und schulischen Alltagspraxis Projekte für und mit interessierten Menschen vor Ort machen wollte, etwa in Form von „Geschichtswerkstätten“. Nebenbei ging es ihnen in einem wissenschaftlichen Sinn auch um Spurensicherung, d.h. um das Festhalten der Erinnerungen von Zeitzeugen (sogenannte Oral History).

Eine „Geschichtswerkstatt“ ist kein Arbeitsraum, sondern eine auf die Erstellung eines Werkes ausgerichtete Gemeinschaft von Menschen, die sich zum Beispiel für die Geschichte eines Stadtteils, Vereines oder Fertigungsbetriebes interessieren. Unter Anleitung eines Historikers tragen sie Material zusammen, forschen in Archiven, sichten die Literatur und sprechen mit Zeitzeugen. Ziel ihrer Arbeit ist ein „Werkstück“, etwa in Form einer Broschüre, einer Ausstellung, eines Filmes oder einer Stadtteilführung.

In Nürnberg begann dies 1982 im Südstadtladen, als zwanzig meist schon etwas ältere Frauen und Männer im Laufe von drei Jahren eine Ausstellung und zwei Broschüren zur Geschichte des Stadtteils Steinbühl erarbeiteten. Ähnliche Projekte gab es später in Gleißhammer, Mögeldorf und in der Gartenstadt, gibt es aktuell in Muggenhof, den Siedlungen Süd, in der Werderau und in Worzeldorf. Mit der Betriebsgeschichte der MAN und der Einwanderung der griechischen Gastarbeiter befassten sich auch vom Bildungszentrum organisierte Geschichtswerkstätten.

Im Unterschied zu anderen Stadtteilen ging der Anstoß für ein Geschichtsprojekt in Langwasser nicht nur von einer einzelnen Initiative, Kultur- oder Bildungseinrichtung aus, sondern von einem Arbeitskreis zahlreicher Vereine und Institutionen. Diese machten sich 2005 darüber Gedanken, wie sich Langwasser weiterentwickeln sollte, um noch lebenswerter zu werden. Man sprach über weitere Feste, über mehr Treffpunkte und über die Notwendigkeit, die Identifikation der verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit ihrem Stadtteil und die Kommunikation untereinander zu verbessern. Dazu bot sich die Auseinandersetzung mit der spannenden, aber weitgehend unbekannten Geschichte Langwassers an.

Von Bewohnern und Besuchern wurde der Stadtteil nur als relativ „geschichtslos“ empfunden, als eine nach dem Zweiten Weltkrieg auf die grüne Wiese geplante Trabantenstadt. Die Städteplaner hatten ganz bewusst vor einem halben Jahrhundert — dem damaligen Zeitgeist entsprechend — alles beseitigt, was in irgendeiner Weise an die Nazibauten, an Kriegsgefangenen-, Ausländer- und Flüchtlingslager erinnern konnte. So ließ man keinen einzigen der Märzfeldtürme übrig und beseitigte alle Wohn-, Schul-, Gaststätten-, Laden-, Werkstatt- und Kirchenbaracken. Nicht einmal ein kleines orthodoxes Holzkirchlein blieb stehen; eine Chance, die sich in einem ähnlichen Fall die Münchener beim Bau des Olympiageländes nicht entgehen ließen.

Große Resonanz

So machte sich eine vom Gemeinschaftshaus Langwasser und vom Bürgerverein getragene Geschichtswerkstatt mit über dreißig ehrenamtlichen Mitarbeitern und unterstützt von Staat, Kulturamt und privaten Spendern an die Arbeit, um diese Geschichte wieder sichtbar werden zu lassen. Neben den eingangs erwähnten Aktionen wurden auch Informationstafeln aufgestellt. Die große Resonanz aus der Bevölkerung zeigt, dass der eingeschlagene Weg Früchte trägt. Langwasser ist zum begehbaren Geschichtsbuch geworden — und die Menschen freuen sich darüber.