Genf

Genfer Frühlingsgefühle: Wenn eine Kastanie den Kalender ersetzt

18.2.2021, 16:04 Uhr
Genf hat an seiner Uferpromenade zum See hin einen stattlichen Baumbestand.

© Fabrice Coffrini, afp Genf hat an seiner Uferpromenade zum See hin einen stattlichen Baumbestand.

Amtlich anerkannt wird der Frühlingsanfang in Genf nur unter einer Bedingung – ein eigens beauftragter Kastanienbaum muss sein erstes Blättchen präsentieren können. Er ist der offizielle Frühlingsverkünder der Stadt.

Da können andere Bäume und Sträucher schon knospen, sprießen und grünen, solange der behördlich bestellte Kastanienbaum auf der Promenade de La Treille kahl bleibt, geht der Winter in Genf in die Verlängerung. Erscheint die erste Knospe dann endlich, wird sie mit großem Pomp, Tanz, Musik und Festreden begrüßt.
Seit zweihundert Jahren sind die Genfer dieser Tradition treu, und ebenso lange werden die Zeichen der Zeit auch nicht von irgendwem festgestellt, sondern vom sautier, der Generalsekretär des Großen Rates. Nur er hat über den Kastanienbaum zu wachen und die städtische Frühlingsstatistik zu führen.

Längste Bank der Welt

Wann Sommer ist, bestimmen die Genfer aber allein. Dann fluten sie die La-Treille-Promenade und sitzen auf der längsten Bank der Welt in der Sonne. 120 grün lackierte Meter für eine Verschnaufpause mit Blick auf den Genfer Hausberg Mont Salève. 120 Meter schönstes Multikulti, denn laut Statistik ist jeder Zweite, der auf dieser Bank Platz nimmt, Ausländer – Tourist oder hier lebend.

Der Frühlingsverkünder in Genf: Ein Kastanienbaum.

Der Frühlingsverkünder in Genf: Ein Kastanienbaum. © Loris von Siebenthal

Den einen lockt die idyllische Lage zwischen Alpengipfeln und Weinbergen an den größten See der Schweiz, den anderen hat ein multinationaler Großkonzern in die Stadt geschickt, in der auch die Vereinten Nationen, die Welthandels- und die Weltgesundheitsorganisation ihren europäischen Sitz haben.

Weltoffen war Genf schon immer. Davon kündet auch ein Wehrturm aus dem 16. Jahrhundert auf der Place du Molard. In dessen Mauer ist eine große Gedenktafel eingelassen mit der Inschrift: „Genève, cité de refuge – Genf, Stadt der Zuflucht.“ Darunter zeigt ein Relief einen kahlköpfigen Mann mit spitzem Kinnbart, der mit ausgebreiteten Armen willkommen geheißen wird und dem Betrachter merkwürdig vertraut vorkommt.

Lenins Zufluchtsort

Es ist kein Geringerer als – Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin. Der russische Revolutionär lebte mehrere Jahre im Genfer Exil und ließ hier seine radikalen Ideen für den Aufstand der Proletarier reifen. Dass ausgerechnet Lenin zum Sinnbild für Flüchtlinge auserkoren wurde, erscheint paradox. War er es doch, der nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 Millionen Menschen terrorisierte und vor allem Künstler, Adlige und Akademiker aus Russland verbannte. Wie Lenin einst selbst flüchteten viele von ihnen nach Genf.

Abendstimmung am See mit dem Springbrunnen vor Genf.

Abendstimmung am See mit dem Springbrunnen vor Genf. © Werner Dieterich, imago

Wer diesen Teil der Geschichte nicht kennt, reibt sich staunend die Augen, wenn ihn bei einem Bummel durch die Stadt plötzlich die goldblitzenden Zwiebelkuppeln einer russisch-orthodoxen Kirche blenden. Die Cathédrale de l‘Exaltation de la Sainte Croix ist die schönste Hinterlassenschaft der russischen Immigranten.

Es ist das erste orthodoxe Gotteshaus der Schweiz, entstanden nach den Plänen eines Architekten aus St. Petersburg und finanziert von einem Mitglied der Zarenfamilie. Dostojewski ließ hier seine Tochter taufen. Im Inneren der Kirche sind Gewölbe, Pfeiler und Wände über und über mit Malereien geschmückt, und flackernde Kerzenflammen spiegeln sich im Blattgold zahlloser Heiligenbilder.

Normalsterbliche in der Luxusmeile

Wenn das Calvin wüsste. Eine russisch-orthodoxe Kirche in seiner Stadt. Der Reformator hatte Genf im 16. Jahrhundert zu einem „protestantischen Rom“ gemacht und die Ausübung jeder anderen Glaubensrichtung bei Todesstrafe verboten. Fleiß, Sparsamkeit und Verzicht war den Calvinisten auferlegt – Tugenden, die einem heute beim Gang durch Genf gewiss nicht mehr in den Sinn kommen.

Normalsterbliche können sich in den Luxusläden der Nobelmeile Rue du Rhône nur den Blick in die Schaufenster leisten. Wo ist sie hin die protestantische Ethik? Reformationsdenkmäler, das Reformationsmuseum und die schmucklose Cathédrale Saint Pierre, in der Calvin einst predigte, erinnern noch an sein Werk, und auch das Grab des Reformators ist auf dem Cimetière des Rois erhalten geblieben.

Perle der französischsprachigen Schweiz: Genf.

Perle der französischsprachigen Schweiz: Genf. © dpa

Die Russen und die Reformation, der Reichtum und die vielen Fremden – all das gehört ebenso zu Genfs außergewöhnlicher Geschichte wie der Rivale des offiziellen Frühlingsverkünders. Der wurde im Jahr 1968 auch auf der La-Treille-Promenade gepflanzt und konkurriert seitdem mit dem behördlich beauftragten Baum.

Dabei legt der Neue regelmäßig einen Frühstart hin und schlägt schon im Dezember aus. Der „verrückte Kastanienbaum“ wird er deshalb auch genannt. Verrückt, empfänglicher für den Klimawandel als andere Bäume oder einfach nur näher dran an der heißen Quelle, die unter der Promenade sprudeln soll? Egal. Hauptsache, Genf hat einen weiteren Lieferanten für gute Geschichten.

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