Fahrt ins Provisorium

28.11.2010, 22:00 Uhr
Fahrt ins Provisorium

© Hans-Joachim Winckler

Ab und zu feiert die Bahn gern. Immer, wenn irgendwo ein neuer Zug auf ein Gleis gesetzt wird und mit Verbesserungen für die Kunden geworben werden kann, kommt ein roter Teppich zum Einsatz, werden Reden gehalten, eine Torte in Zugform angeschnitten und dann symbolisch der Verkehr freigegeben.

Aber wenn am 12. Dezember die S-Bahn rund um Nürnberg von 67 auf 224 Kilometer wächst, werden keine Korken knallen. Der DB fehlt die Lust. Obwohl 400 Millionen Euro ausgegeben und auch sonst beeindruckende Zahlen produziert wurden: Bauarbeiten auf 179 Kilometern Strecke, 30 Kilometer neue Gleise, 42700 neue Schwellen, 411500 Kubikmeter Erdbewegung, 80 neue Weichen, 87 Kilometer neue Oberleitung nebst Masten, 8930 Meter Schallschutz.

Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Sie ist so lang, dass nicht einmal Norbert Klimt sie im Kopf hat. Der Chef von DB Regio in Bayern sagt dafür Sätze wie: „Am Ende des Tages wird alles super sein.“ Wenn Nürnberg nicht nur einer der Hauptknoten für den Fern- und Güterverkehr in Deutschland ist, sondern die Mittelfrankenbahn, die Mainfrankenbahn und die S-Bahn hier zu einem Nahverkehrssystem vereint, nach dem sich andere Städte die Finger lecken würden. Wenn.

Klimt ist eine sportliche Erscheinung und kennt sich aus in Sachen Ausdauer. Vergleicht man den Ausbau der S-Bahn mit einem Marathonlauf, wäre man jetzt wenige Kilometer vor dem Ziel. An einem Punkt also, wo es weh tut und der Schmerz bisweilen den Blick auf das nahe Ziel verstellt. Klimt macht aus der Situation kein Hehl. Wie auch?

In Fürth gibt es nur einen Behelfsbahnsteig aus Holz

Jeder halbwegs aufmerksame Beobachter kann sehen, dass es vor allem auf der ursprünglich als Paradestrecke gedachten Linie der S1 nach Forchheim zwickt: In Fürth gibt es nur einen Behelfsbahnsteig aus Holz. Ein Stück weiter in Vach nicht einmal das. Bis Mitte 2011 kann der Halt auf keinen Fall angesteuert werden. Infrastrukturexperten der Bahn nennen Vach hinter vorgehaltener Hand einen „Kollateralschaden“. Doch auch rundherum hakt es reichlich.

Weil sich die Stadt Fürth und die Bahn um die Streckenführung (Reizwort: „Verschwenk“) streiten, hört die S-Bahn hinter der Kleeblattstadt einfach auf. Bis dort die Gleise verlegt sind, wird es noch Jahre dauern. Zwischen Nürnberg und Fürth macht die Stellwerkstechnik Probleme. 19 der 74 Stationen im Großraum sind nicht barrierefrei. An manchen Bahnhöfen fehlt immer noch die Beleuchtung — ohne die abends kein Zug halten darf.

Wer nach den Ursachen sucht, muss weit zurückblicken. Die ursprünglichen Planungen für die Erweiterung der Nürnberger S-Bahn Richtung Forchheim stammen aus den 90er Jahren. 2002 wurde eine „Absichtserklärung“ zwischen Freistaat und Bahn unterschrieben. Bis zur Finanzierungsvereinbarung sollten dann aber noch vier Jahre vergehen. Die Mittelfreigabe für die anderen Linien wurde erst im September 2008 besiegelt. Unter dem Strich blieben der Bahn also knapp drei Jahre, um 400 Millionen Euro zu verbauen.

Ein Kraftakt sondersgleichen. Und eine Zumutung für die Kunden. Zwei Mal wurde für je sechs Wochen die Strecke zwischen Forchheim und Bamberg gesperrt. Auch auf der Strecke nach Ansbach, nach Hartmannshof und zwischen Nürnberg und Neumarkt mussten die Kunden über Wochen in Busse steigen. Dazwischen ging während unzähliger Wochenenden nichts mehr auf den Gleisen.

Man wisse, was man den Kunden zugemutet habe und zumutet, sagt Klimt. Mehr als um Verständnis werben und hoffen, dass nicht zu viele dauerhaft aufs Auto umgestiegen sind, kann er aber auch nicht. Während die Pendler haderten, kämpfte die Bahn auch darum, überhaupt genug Firmen für die Bauabwicklung zu bekommen. Und wie das eben so ist bei Großprojekten: Mal erweist sich ein Bauleiter als unzuverlässig. Dann macht plötzlich und ohne Vorwarnung ein Auftragnehmer Pleite. Alles bleibt liegen und stehen, Ersatz muss her, während die Zeit davonläuft.

Die Infrastruktur ist nicht das einzige Problem. Dazu kommen Schwierigkeiten mit dem „rollenden Material“. 320 Regionalzüge der Baureihe ET 442 hatte die Bahn 2007 bei Bombardier geordert. 42 waren für die Nürnberger S-Bahn gedacht. Doch es gab Probleme mit der Software, den Bremsen, dem Antrieb. Die interne Mängelliste der Bahn hat Buchformat, bis heute fehlt den inzwischen nachgebesserten Zügen die Zulassung durch das Eisenbahnbundesamt. Vor Mitte 2011 werden die Fahrzeuge nicht kommen, für deren Betrieb dann noch Triebfahrzeugführer, das Servicepersonal und die Mitarbeiter in den Werkstätten geschult werden müssen. Aus „allen Ecken der Republik“ hat Klimt deswegen Züge „zusammengekratzt“, um den neuen Fahrplan irgendwie halten zu können.

Die Versäumnisse der Fahrzeugindustrie verärgern auch Willi Weisskopf. Trotzdem sei die S-Bahn ein „Quantensprung“ für den Nahverkehr im Großraum, sagt der Geschäftsführer des Nürnberger Verkehrsverbunds (VGN). „Die S-Bahn bietet die Möglichkeit, künftig deutlich mehr Züge auf die Schiene zu bringen.“ Und darauf komme es an. Pendlerströme umweltfreundlich und parallel zu wachsendem Schienengüter- und Fernverkehr auch in zehn, zwanzig Jahren noch intelligent und umweltverträglich lenken zu können.

Nahverkehr bedeutet, Visionen zu haben, findet Weisskopf. Auch wenn es hakt und länger dauert als geplant.