Besuchsverbote in Kliniken und Heimen: Betroffene leiden unter Corona-Regeln
08.12.2020, 17:37 Uhr
Wer nicht mehr sprechen kann, hätte gerne eine Hand zum Festhalten. Jemanden, der ihm zeigt: Du bist nicht allein. Da ist jemand, der sich kümmert. Einer, der dich auch schon kannte, als noch alles in Ordnung war.
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Studenten der Evangelischen Hochschule Nürnberg (EvHN) haben untersucht, wie sich Besuchsverbote in Kliniken und Pflegeheimen auf Patienten, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte auswirken. Es ist nur eine kleine Studie, sie zeigt aber erste Einblicke in eine aktuell schwierige Situation.
"Für Patienten sind ihre Angehörigen die Verbindung in ihr normales Leben", sagt Martin Wiegand. "Die Medizin hält sie am Leben – die Angehörigen halten sie im Leben." Wiegand studiert im achten Semester Angewandte Pflegewissenschaften in Nürnberg – berufsbegleitend. Der 56-Jährige arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Krankenpfleger, seit 2008 auf einer Intensivstation.
Angehörige sehen den Menschen hinter der Krankheit
"Patienten sind nicht nur Symptomträger, sondern Menschen mit einer Identität", erklärt er. "Dieses Selbstbild gerät durch eine Erkrankung oft total ins Wanken." Deshalb sind Besucher so wichtig. Sie kennen die Person vor der Krankheit und erinnern sie daran, wer dieser Mensch für sie ist.
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Wiegand hat zusammen mit seinen Kommilitonen Natalie Jenner, Tanja Treibig, Solveig Stepan-Grauer und Roman Kopp vier Pflegekräfte interviewt. Sie wollten wissen, wie sie die Auswirkungen des Besuchsverbots in stationären Einrichtungen zu Beginn der Corona-Pandemie erlebt haben. Die Testpersonen arbeiten in der neurologischen Frührehabilitation. Sie betreuen Patienten etwa nach einen Schlaganfall, die Schwierigkeiten mit dem Sprechen und Bewegen haben.
"Überrascht hat uns vor allem, wie wichtig die nonverbale Kommunikation bei Besuchen ist", sagt Natalie Jenner. Die 36-Jährige arbeitet seit fünf Jahren auf einer Palliativstation. "Auch wenn die Patienten sich nicht so gut ausdrücken können, herrscht eine Gemeinsamkeit, sie merken, dass sie jemand wahrnimmt und trotzdem versteht."
Mehr Entlastung: Pflege soll besser bezahlt werden
Bei einem Besuchsverbot fällt ausgerechnet dieser Aspekt weg. Niemand kann mehr am Bett sitzen und einfach "da sein". Körperliche Nähe lässt sich nicht ersetzen. Wenn möglich, versucht das Pflegepersonal, einen Telefonhörer ans Ohr zu halten oder Videotelefonate am Computer zu organisieren. Aber erstens fehlt dafür oft die Zeit und zweitens sind Gespräche schwierig, wenn nur eine Seite reden kann. "Von rund 30 Patienten konnten gerade einmal zwei selbstständig telefonieren", erzählt Jenner.
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Die Pfleger bekommen eine neue Rolle als Übersetzer. "Ihre Mutter lacht jetzt", sagen sie dann den Angehörigen. Oder "ihr rollen jetzt Tränen übers Gesicht". Zusätzlich zu den Belastungen durch Corona, bringt das neue Herausforderungen mit sich. "Die Pflegekräfte fühlen sich als eine Art Ersatz-Angehörige, die Hände halten und Zeit schenken wollen, doch das können sie nicht auch noch ausreichend leisten", sagt Jenner.
Die Familie will informiert sein
Viele Angehörigen wiederum wollen gerne ständig informiert sein, ebenfalls irgendetwas tun und so einen Beitrag zum Gesundwerden leisten. Das hilft ihnen oft auch selbst, mit der neuen Situation umzugehen. "Familienmitglieder und Freunde haben in dieser Zeit Briefe und Fotos geschickt, die die Pflegenden dann vorgelesen haben", erzählt Jenner.
Die meisten Patienten sind mehrere Wochen oder sogar Monate in der Einrichtung. Wer keinen Besuch bekommen darf, leidet darunter. "Die Interviewten haben gesagt, dass das den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst", sagt Susanne Schuster, Professorin für Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule, die die Studie betreut hat. "Natürlich liefert diese kleine Untersuchung dafür nur Indizien, das ist kein Beleg." Aber mit Angehörigen sei die Genesung oft schneller.
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Schuster ist überzeugt, dass hier noch mehr Forschung nötig ist. "Was nutzen Besuchsverbote und wie schaden sie?", fragt die Professorin. "Das hat weitreichende Effekte, die bislang nicht untersucht sind, dazu sind mehr Daten nötig."
Manche Patienten ziehen sich in sich zurück. Sie hören sogar auf zu essen oder weigern sich, ihre nötigen Übungen zu machen. "Da frage ich mich manchmal schon, wo die Prioritäten liegen", sagt Wiegand. "Für jedes Fußballspiel werden zig Personen getestet, dafür sind genug Personal und Schutzausrüstungen vorhanden." Für Angehörigenbesuche aber nicht.
Nur manche hätten ihren Ärger, Wut, Trauer und Enttäuschung über die Verbote an den Pflegern ausgelassen. "Die meisten waren sehr verständnisvoll", erzählt Wiegand. "Sie sehen ein, dass auch der Schutz der Patienten wichtig ist." Den befragten Pflegekräfte ist es schwer gefallen zu entscheiden, für wen sie eine Ausnahme machen dürfen. "Bei Sterbenden gab es das beispielsweise – aber woran mache ich das fest, wann es zu früh und wann zu spät ist?", sagt Jenner. "Jedes Schicksal ist schwierig und wer braucht den Besuch dann am dringendsten?"
Großes Verantwortungsgefühl
Das sind Fragen mit denen sich das Personal oft alleingelassen fühlt. "In der ersten Welle mussten schnelle Lösungen und Schutzkonzepte her, keine Frage", sagt Schuster. "Doch spätestens jetzt wäre es an der Zeit für einen fachlichen Austausch und Reflexion – der Mehraufwand in der Pflege muss gedeckt werden."
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Besuche mit Schutzausrüstung und Schnelltests sind zur Zeit vielerorts wieder möglich. "Niemand will derjenige sein, der das Virus aus Versehen in eine Pflegeeinrichtung hineinträgt", sagt Natalie Jenner. An ihrem Arbeitsplatz diskutieren die Kollegen gemeinsam, was wie wo machbar ist, das hilft ihr. "Das Verantwortungsgefühl ist groß unter uns Mitarbeitenden." In Martin Wiegands Familie arbeiten fünf von sechs Personen in der Pflege. "Mit der Studie haben wir nicht mehr nur ein Gefühl, wie wichtig die Besuche von Angehörigen sind, sondern eine Argumentationsgrundlage."
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