Gunzenhäuser Lesekreis entführte in die 1960er Jahre
9.2.2017, 17:19 UhrErstmals lesen Kristy Husz und Kerstin Zels nicht nur Literatur zu einem bestimmten Thema, sondern haben sich einen regionalen Autor mit dazugeholt: Martin Freund aus Weißenburg stellt sein aktuelles Buch „Bernsteinjahre“ vor.
Am Rande des Atomkriegs
Es ist das Jahrzehnt der Beatles und der Rolling Stones, der Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King, des Vietnamkriegs und der Studentenunruhen, der Kuba-Krise und der Mondlandung. 1961 wird die Mauer gebaut, 1962 steht die Welt am Rande eines Atomkriegs, 1963 geht mit „I have a dream“ in die Geschichte ein — kaum ein Jahr in dieser bewegten Dekade ohne ein Ereignis, das sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat.
„Namen wie Willy Brandt, Rudi Dutschke, Mao und Che Guevara haben selbst in der Generation iPhone einen höheren Bekanntheitswert als die meisten politischen Führer“ in den folgenden Jahrzehnten, schreibt der Musikjournalist Ernst Hofacker in seinem jüngsten Buch „1967: Als Pop unsere Welt für immer veränderte“. Als „Urknall des Pop“ habe das Jahrzehnt „das noch immer gültige Setting für einen weltweit verbindlichen Lebensstil“ erschaffen und wirke sich damit immer noch nachhaltig auf die Gegenwart aus. Alles, was davor geschah, ist zum größten Teil „graue Vergangenheit“.
Nur ein kurzes Stück liest Kristy Husz aus Hofackers Text, in dem vielleicht auch sie eine Begründung für ihre Faszination für diese Jahre gefunden hat. Denn nach eigenem Bekunden ist sie „ein großer Fan der 60er“. Da traf es sich gut, dass eine der sechs Geschichten in Martin Freunds Buch genau in dieser Zeit spielt, das Motto des Leseabends war gefunden.
Zunächst gibt es eine informative und amüsante Einführung in die Materie: Von 1960 bis 1969 haben die drei Protagonisten des Abends zu jedem Jahr interessante Fakten zusammengetragen, die über die bereits genannten Meilensteine dieser Zeit hinausgingen. Wer weiß heute noch, dass 1966 der R16 „Auto des Jahres“ war oder IBM 1969 die Diskette erfand?
Mit den sogenannten „Big Five“ gewann „Einer flog über das Kuckucksnest“ 1975 die begehrten fünf Oskars in den wichtigsten Kategorien von bester Film bis beste Hauptdarsteller. Lange vor dem absolut sehenswerten Film mit Jack Nicholson in der Hauptrolle ist allerdings 1962 der gleichnamige Roman von Ken Kesey erschienen, der das beklemmende und menschenverachtende System in einer psychiatrischen Anstalt, wo eine sadistische Oberschwester ihr grausames Zepter schwingt, thematisiert. Kristy Husz liest daraus eine der Schlüsselstellen des Romans.
Wie eine zufällige Begegnung ein Leben verändern kann, das erzählt Martin Freunds Geschichte „1965 — Die Marionetten“. 1966 in Ergolding bei Landshut geboren, lebt und arbeitet Freund seit vielen Jahren in Weißenburg. Zu seinen Werken zählen unter anderem der Roman „Narbenschmerzen“ und der Krimi „Eine Bagatelle“, beide mit regionalem Bezug. Die sechs Geschichten in „Bernsteinjahre“ spielen in den Jahren von 1955 bis 2005, jeweils in der Mitte eines Jahrzehnts.
Liebe und Leidenschaft
Bertram hat Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt und auch seine 60er- Jahre sind bisher, nicht zuletzt wegen seines Stotterns, nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Er lebt in einem Arbeiterviertel, malocht tagsüber und findet in Karl-Heinz Kräwinkel nicht nur einen väterlichen Freund, sondern auch seine Bestimmung und sein Glück: Kräwinkel gewinnt ihn als zweiten Spieler für sein Marionettentheater. Schnell wird das Spiel zu einer Leidenschaft, mit der er letztendlich seine Herzdame für sich gewinnt.
Mit fortschreitendem Abend macht sich im Café appetitanregender Erdbeergeruch breit. Er entströmt der Bowle, die Harry Gießbeck und Diana Baumgärtner passend zum Anlass gemixt haben. Sie findet ebenso reißenden Absatz wie die extra kreierten 60er-Jahre-Tapas. Die kulinarische Abrundung des Abends kommt bei den Besuchern gut an.
Aufs musikalische Parkett und damit sicher einem der wichtigsten des Jahrzehnts führt Kerstin Zels das Publikum. Sie liest aus Fritz Grubers „1000 Mal gehört. 1000 Mal fast nix kapiert“. Der zuletzt in Gunzenhausen lebende, im vergangenen Jahr verstorbene Autor erklärt darin sehr humorvoll genau die Stellen, die man früher beim Hören der englischen Songs aus den 60er- und 70er Jahren nie verstanden hat, und liefert gleichzeitig jede Menge Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte der Lieder.
Die „Lady D’Arbanville“ von Cat Stevens etwa gab es wirklich. Sie hieß mit bürgerlichem Vornamen Patti und brachte den Musiker Ende der 60er- Jahre fast um den Verstand. Denn der charismatische Star kam nur schwer damit zurecht, dass seine Angebetete als begehrtes Model ständig in der Weltgeschichte unterwegs war.
Mit „Scarborough Fair“ von Simon & Garfunkel, das ursprünglich eine mittelalterliche Ballade ist, „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin, einem Monument der Rockgeschichte, und schließlich noch „The End“ von den Doors, das auch aus dem Lautsprecher tönt, lässt Kerstin Zels den wunderbaren Ausflug in die 60er-Jahre ausklingen.
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