Der Mann mit dem schwarzen Hut und dem großen Herz

29.11.2018, 19:14 Uhr
Der Mann mit dem schwarzen Hut und dem großen Herz

© Foto: Stefan Hippel

Jaime Robotham blickt in die Mündung der Pistole des fremdes Mannes. Der fragt laut, wer nun zuerst schießt. Nur dass Jaime Robotham, damals 24 Jahre jung, keine Waffe in der Hand hält, sondern eine Kamera. Beide drücken ab. Der Fremde feuert Schüsse in die Luft, um eine Studentendemo auseinanderzutreiben, Robotham hält den Moment in Bildern fest.

Die Fotos erscheinen in einer chilenischen Zeitung. An einem Abend in einer Kneipe wenig später ist wieder eine Pistole auf Robotham gerichtet, diesmal spürt er sie im Rücken. Es ist der Fremde, der zwei Begleiter dabei hat. Was sie sagen, verändert Jaime Robothams Leben. "Wenn du nächste Woche noch in Santiago bist, hängst du als Kadaver in einer Metzgerei", flüstern sie dem Hobby-Fotografen ins Ohr. Er wendet sich an das Amt für Menschenrechte — und verlässt mit dessen Hilfe nicht nur die chilenische Hauptstadt, sondern das Land umgehend

Seine zwei Kinder aus einer ersten Ehe, die schnell zerbricht, muss er zurücklassen. Die Militärdiktatur unter dem Regime Augusto Pinochets stellt alles auf den Kopf. "Sie hat meine Familie zerstört."

Robotham gründet eine neue, zusammen mit der Nürnbergerin, die er in Chile kennenlernt und die mit ihm in ihre Heimat flieht. 32 Jahre ist das her. Hier lernt er Christine Schüßler kennen, heute Leiterin des Bürgermeisteramts. Sie stellt 1988 eine Gruppe zusammen, die nach Nicaragua reist. Erst wenige Jahre zuvor ist Nürnberg mit der Stadt San Carlos eine Städtepartnerschaft eingegangen. Robotham schließt sich der Reise an, sein Spanisch ist gefragt — und seine helfenden Hände. Die hat der Chilene von seinen Eltern mitbekommen, die stets für andere da waren, sich gekümmert haben, sagt ihr Sohn.

Robotham hilft, eine Schule in San Carlos zu bauen. Er baut eine Beziehung zu dem Land in Mittelamerika auf — und seit Jahrzehnten Jahr für Jahr eine Bude am Markt der Partnerstädte. Die würde ohne den "Mann mit dem schwarzen Hut" nicht laufen. Hier kennen sie ihn wegen seiner markanten Kopfbedeckung — und wegen seiner Hilfsbereitschaft.

Jeden Morgen ist Robotham hier, sperrt auf, kümmert sich um die Dekoration und die Auslage der Waren. Die hat er schon vor dem Beginn des Marktes fein säuberlich eingeräumt. Sie verkaufen hier Kaffee und Kakao aus Nicaragua, aber auch von der Kaffeerösterei Rösttrommel. Außerdem Literatur aus Mittelamerika und kleine Tiere aus Balsaholz, "echte Handarbeit", macht Robotham Werbung.

Kaffeemaschine läuft schon

Wenn die ersten Verkäufer eintreffen, läuft die Kaffeemaschine schon. Kein Wunder: Kaffee verbindet Jaime Robotham und San Carlos. "Drei bis vier Tassen sind es schon am Tag", lacht der 67-Jährige. Er interessiert sich auch für die Geschichte Nicaraguas, vor allem für die politische Entwicklung, die er genau verfolgt.

"Schlimm", sagt er und legt einen Rundbrief des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft vor sich. Dort wird die aktuelle Lage im Land beschrieben. Zwar sind die seit April herrschenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung von Präsident Daniel Ortega und der protestierenden Bevölkerung weniger geworden. Demonstrationen aber bleiben verboten, Mitgliedern von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen werden Treffen mit Regierungsvertretern verweigert — wenn sie überhaupt ins Land einreisen dürfen. 481 Menschen sind den Unruhen schon zum Opfer gefallen.

Konflikte, Tote, mit Füßen getretene Menschenrechte. In Jaime Robotham weckt das Erinnerungen. Sofort hat er die Bilder im Kopf. Bilder von Polizisten, die auf Demonstranten einschlagen, von Journalisten, die mit Tränengas eingenebelt werden. Fotos davon hat Robotham in einem Buch veröffentlicht, Titel: "Hinsehen verboten! Unfeine Bilder aus Chile".

Jaime Robotham aber hat nie weggesehen. Inzwischen reist er ab und zu in seine Heimat, zuletzt aus traurigem Anlass: dem Tod seiner Mutter. Margarita, eine von Robothams beiden Töchtern aus zweiter Ehe, ist dagegen in Nicaragua gewesen — zum Helfen. Sie hat Englisch- und Tanzunterricht gegeben. Inzwischen lebt sie in Berlin.

Jaime Robotham hilft den Menschen in San Carlos aus 9500 Kilometer Entfernung, auf dem Markt der Partnerstädte. Früher haben die beiden Töchter mit in der Bude gestanden, "das war toll für sie". Damals hat sich der inzwischen pensionierte Mechatroniker während des Marktes sogar freigenommen. Heute steht Robotham selbst nur darin, um Ware aufzufüllen oder auf- und abzuschließen — außer er springt ein, wenn einer der immerhin 70 Freiwilligen seinen Dienst nicht antreten kann.

Vor Ort ist er meistens dennoch. Um kleine Reparaturen zu machen, um neuen Helfern Tipps zu geben. Oder einfach um sich ein Bild zu machen. Auch ohne Kamera.

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