Das sind ihre Motive

Wer erinnert noch? Darum engagieren sich junge Menschen auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände

Verena Gerbeth

nordbayern.de

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17.5.2024, 04:55 Uhr
Simon Scheidle vor der Zeppelintribüne auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Der 22 Jahre alte Student begleitet regelmäßig Gruppen über das Areal.

© Verena Gerbeth Simon Scheidle vor der Zeppelintribüne auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Der 22 Jahre alte Student begleitet regelmäßig Gruppen über das Areal.

An diesem sonnigen Samstagmorgen im Mai ist es wärmer als erwartet. Simon Scheidle steht am Ufer des Dutzendteichs und knüllt seine Regenjacke in den Rucksack. "Das wird mir später definitiv zu warm", sagt er. Er hat schließlich noch einige Schritte vor sich. Auf der gegenüberliegenden Uferseite ist der bekannte Bootsverleih erkennbar. Die großen pinken Tretboote in Flamingo-Form sind noch an ihrem Steg festgebunden und warten auf die ersten Gäste. Aber zum Genießen des Frühlingswetters ist Simon heute nicht hergekommen: Im Rücken des 22-Jährigen ragt der größte noch erhaltene Torso der NS-Architektur 39 Meter in die Höhe: die Kongresshalle. Bereits seit sechs Jahrzehnten beheimatet sie die Nürnberger Symphoniker. Seit 2001 ist auch das Dokumentationszentrum darin zu finden.

Als er sich seinen Rucksack wieder umschnallt, ist dort groß der Schriftzug "Geschichte für Alle e.V." zu erkennen. Und das zeigt Wirkung. Ein Ehepaar aus der Pfalz kommt auf ihn zu und fragt nach Tickets für den etwa zweistündigen Rundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Doch Simon muss sie erstmal ein wenig enttäuschen. "Ich bin leider mit 30 Leuten völlig ausgebucht, aber mein Kollege startet 15 Minuten später", schlägt er ihnen vor. Das sei in Sommermonaten die Regel, erklärt er.

Der Verein, der seit 40 Jahren zu Regionalgeschichte forscht, führte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr etwa 112.000 Menschen in Rundgängen über das Gelände - etwa die Hälfte kam aus dem Ausland, um hier mehr über das größte Staatsspektakel des Nationalsozialismus zu erfahren.

Dann geht es am Treffpunkt mit den rund 30 Touristinnen und Touristen aus ganz Deutschland los. Simon hat in seinem Rucksack einen Ordner mit zahlreichen Abbildungen dabei. Er klärt über die ideologisch aufgeladenen Massenveranstaltungen auf, zu denen sich bis zu einer Million Menschen immer im Spätsommer zwischen 1933 und 1938 für etwa eine Woche versammelten. Er spricht über die gigantischen Architekturpläne Albert Speers, Hitlers Leibarchitekt. Sie sollten den imperialen Machtanspruch der Nazis deutlich machen. An diesem Vormittag thematisiert Simon aber auch die Ausgrenzung sowie Ausbeutung von Minderheiten, die Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft, die auch Teil der Geschichte des Geländes nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sind.

Die Kongresshalle, die Große Straße, das Zeppelinfeld und die Zeppelintribüne - das Gelände sei kein NS-Freilicht-Museum, betont Simon. Er versteht es als lebendiges Freizeitareal, aber vor allem als einen Vermittlungs- und Lernort. Das Publikum sei gemischt, hier arbeite er mit Erwachsenen, Studierenden, Schulklassen. "Mir ist es wichtig, aufzuklären. Und hiermit kann ich gegen rechte Strategien anarbeiten." Der 22-Jährige, der für sein Studium der Pädagogik sowie der Kunstgeschichte nach Nürnberg gezogen ist, betont außerdem: "Es ist naiv zu glauben, dass ich hier über eine Zeit spreche, die abgeschlossen ist. Keinesfalls ist die Gesellschaft vor rechten Einflüssen gewahrt."

Vor allem die Arbeit mit Jugendlichen sei ihm wichtig. Während die Nationalsozialisten moderne Medien wie Film und Fotografie einsetzten, um ihre Propaganda zu verbreiten, ist es heute die AfD, die andere Parteien auf jungen Plattformen wie TikTok oder Instagram bei Weitem abhängt. Aussagen wie "Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? (...) Echte Männer sind rechts", bekommt das junge Publikum dort zum Beispiel auf dem Kanal von AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah ausgespielt. Die Partei mit den besorgniserregenden Datingtipps gilt beim Verfassungsschutz seit Jahren als rechtsextremistischer Verdachtsfall - mittlerweile auch gerichtsfest. Der TikTok-Account der Bundestagsfraktion zählt durchschnittlich fast eine halbe Million Impressionen pro Video. Im Vergleich: Die Kanäle von anderen Fraktionen kommen gerade einmal auf wenige zehntausend Views.

Daher ist es wenig verwunderlich, dass sich auch viele junge Erwachsene innerhalb der Erinnerungsarbeit engagieren wollen. Diese Dringlichkeit war auch für Carina Grosch ein wichtiger Aspekt, um sich dem Verein anzuschließen. Im Jahr 2022 begann die damals 21-Jährige mit den Rundgängen. "Auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände werden die Auswüchse des Nationalsozialismus deutlich", sagt sie. Für sie werde hier aber auch das Scheitern des Systems erkennbar: "Historisch korrekte Aufklärung nimmt einigen, die jetzt vor allem auf Social Media oder auch im realen Leben hetzen, den Wind aus den Segeln. Zumindest hoffe ich das. Es ist ein Ansatz, um dagegen vorzugehen."

Familienforschung beim Nürnberg-Besuch

Die Entlarvung des Areals als ehemaligen Ort der Propaganda ist von besonderer Bedeutung. Doch wer besucht ihn? Zwischen den joggenden und radelnden Nürnbergerinnen und Nürnbergern, die das Wochenende rund um den Dutzendteich genießen, ist die Gruppe um Simon Scheidle mittlerweile in Richtung Zeppelintribüne unterwegs. Das Ehepaar aus der Pfalz konnte doch noch zwei Plätze in der ersten Gruppe des Tages ergattern und erzählt von dem kurzen Trip in die Frankenmetropole: die Nürnberger Burg, die Felsengänge und schließlich das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Es gehört mittlerweile zu einem Besuch der Stadt wie jedes andere touristische Angebot. Doch die kritischen Diskussionen vor Ort dürften sich von den restlichen Highlights deutlich unterscheiden.

Zwei Freundinnen sind aus Berlin und Stuttgart für einen gemeinsamen Städtetrip angereist. Für eine von ihnen bedeutet der Besuch auch Forschung innerhalb der eigenen Familiengeschichte. "Mein Opa ist mit der Hitlerjugend in den 1930er Jahren nach Nürnberg zu den Reichsparteitagen gereist", erzählt sie. Von unbequemen Nächten in den Zeltlagern, Langeweile und langem Herumstehen habe er berichtet. Aspekte, die in der propagandistischen Auswertung der Massenveranstaltung selbstverständlich keinen Einzug fanden, wie Simon betont.

Am Ende des Rundgangs sitzt die Gruppe noch gemeinsam auf den Stufen der Zeppelintribüne. Zuletzt gibt der Student seinen Zuhörerinnen und Zuhörerinnen noch etwas mit auf den Weg: "Es gilt, wachsam zu sein".