Raus zum Gespräch: Wie uns die Pandemie in die urbane Natur treibt
22.03.2021, 06:00 UhrEin Spaziergang ist ein Spaziergang, ist ein Spaziergang? Nicht ganz, jedenfalls nicht in diesen Tagen. Dass sich die Stadtmenschen seit einem Jahr so massenhaft zur city-nahen Natur hingezogen fühlen wie Bienen auf die Sommerwiese, ist kaum zu übersehen. Man muss nur an einem beliebigen Wochenende – das Wetter spielt keine überragende Rolle, die Uhrzeit im Grunde auch nicht – einen Ausflug ins urbane Grün wagen, schon ist man selbst in distanzierten Zeiten wieder unter Menschen. Und marschiert im Gleichschritt auf immer ausgetreteneren Pfaden, vorbei an überquellenden Abfallkübeln.
Überall im Land tummeln sich in innerstädtischen Fluss-Auen und Parks neben den üblichen Joggern, Gassigehern und Frischluftfreunden ganze Heerscharen Überdrüssiger, die angesichts der ihnen auf den Kopf fallenden Zimmerdecke das Weite suchen. So weit das eben auf die Schnelle geht.
Der Trend lässt einen mitunter um die so begehrte Natur fürchten. Denn mit der Begeisterung und Sehnsucht der Romantiker von einst hat er nicht viel gemein. Die beiden Studenten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder ließen sich auf ihrem berühmten Fränkische-Schweiz-Trip im Mai 1793 immerhin zu salbungsvollen Hymnen hinreißen: ". . . ein zuerst romantisches Tal, durch das sich die Wiesent in vielen Krümmungen schlingelt, zu beiden Seiten ziemlich hohe Berge, . . . ich habe noch wenig so schöne Tage als diesen genossen, es ist eine Gegend, die zu tausend Schwärmereien einladet, etwas düster melancholisch und dabei doch so überaus freundlich", notierte Tieck mit Blick auf die Landschaft zwischen Ebermannstadt und Streitberg.
Sehnsucht nach Café oder Kneipe
Der leidenschaftliche Weiter-weg-Wanderer sucht diese stille Seelenerfahrung sicher auch heute noch. Stadtnahen Spaziergängern und Spaziergängerinnen fehlt ganz offensichtlich das genaue Gegenteil, nämlich das gemütliche oder hippe Café an exponiertem Platz, das Restaurant oder die angesagte Kneipe, wo man sich mit Familie, Freunden und Bekannten trifft.
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Als neue Kulisse für den Austausch der heißesten Neuigkeiten, zum Plaudern, Trösten und getröstet werden dienen in der Pandemie die grünen Lungen der Stadt. Der Cappuccino im Recycling-Becher ist im wahrsten Sinn "to go", man stößt unterwegs mit Bierflaschen an, und via Smartphone und Ohrenstöpsel lässt sich auch mit jenen reden, die gar nicht dabei sind.
Wer kann es uns verdenken, dass wir raus wollen, wann immer es geht. Dass wir in dieser an Impulsen, Bewegung und Inspiration so armen Zeit nach jedem Grashalm greifen, um neue Eindrücke zu bekommen, kleine Abenteuer zu erleben und Gefühle zu aktivieren? Dass wir uns von Homeoffice und Nachwuchsbeschulung statt auf einer Reise beim Gesprächsspaziergang erholen?
Wir brauchen die Natur
Ja, unser Verhältnis zur Natur hat sich verändert. Wir brauchen sie, auch die stadtnahe, gerade dringender denn je. Und wir werden sie noch eine ganze Weile brauchen. Denn unser Radius wird so schnell nicht wieder der alte sein. Deshalb sollten wir achtsam mit ihr umgehen, selbst wenn Wald und Wiese beim Flanieren nicht mehr die Hauptrolle spielen.
Dass der Run aufs Grün ausgerechnet einen Naturschützer nicht über die Maßen beunruhigt, mag überraschen. Martin Geilhufe, politischer Geschäftsführer und Landesbeauftragter des Bundes Naturschutz in Bayern, hat Verständnis für die vielen Spaziergänger. "In Städten wie Nürnberg lebt eine hohe Zahl von Singles, die sich jetzt nicht treffen können; sie brauchen einen Ort, um das zu realisieren, was sie sonst auch tun", sagt er als Beispiel.
Der Schaden hält sich in Grenzen
Dieser Ort sei in Pandemiezeiten der innerstädtische Raum und dessen Natur. Doch, so beschwichtigt der studierte Philosoph und Geograph, in diesen Gebieten sei die Dichte an Spaziergängern, Grillfreunden und jungen Leute, denen das Bier in der Kneipe zu teuer ist, immer hoch gewesen. Und was ist mit dem Schaden an Gehölz, Ufern, Wiesen und Wasservögeln? Hält sich nach seiner Sicht in Grenzen. "Da würde ich wirklich ein Fragezeichen machen, ob die momentane Belastung so viel größer ist für die Natur, als sie es vorher schon war", betont er.
Im Allgemeinen kann der Mittdreißiger aus München dem virusbedingt veränderten Verhältnis zwischen Menschen und Natur durchaus Positives abgewinnen. Durch den Trend daheim zu kochen habe sich 2020 beispielsweise der Absatz von Bioprodukten in Deutschland um 20 Prozent erhöht. Für Geilhufe ein Indiz dafür, dass die Menschen "aufgrund geschlossener Gastronomie und Kantinen ein stärkeres Bewusstsein für ihre Ernährung haben".
Aus den teils großen Problemen mit dem (durch die seit Monaten geschlossenen Hotels und Pensionen) verstärkten Tages-Tourismus – in der Fränkischen Schweiz ebenso wie im Bayerischen Wald oder im Münchner Umland – liest er eine gewachsene Bedeutung von "naturnahen Erholungslandschaften".
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"Bisher ist man an Ostern an den Gardasee gefahren, das wird auch in diesem Jahr nicht möglich sein", sagt er. "Man ist also wie 2020 darauf angewiesen, im Umland Tagesausflüge zu machen." Und in diesem Fall sei Natur eben nicht nur Kulisse wie in der Stadt. Geilhufe ist sich ziemlich sicher, dass die Menschen dabei die Landschaften in einer anderen Weise kennen und schätzen lernen, als das in den vergangenen Jahren der Fall war. "Das gibt dem Bund Naturschutz und der Umweltbewegung einen riesigen Auftrieb", unterstreicht er. Denn es gehe um Gegenden, die "wir seit über 100 Jahren vor Bebauung und Verschandelung bewahren". Dabei erhofft man sich nun Unterstützung.
Mehr Tourismus in Deutschland
Wir fragen noch einmal nach der Zumutung für die Natur – und für die Bewohner überrannter Hotspots. Eventuelle Schwierigkeiten seien mit guter Naturschutzarbeit vor Ort lösbar, erklärt Geilhufe. Die brauche es auch. Denn weder in Stadtnähe noch an den Ausflugszielen werden die Menschen weniger werden – "weil in den nächsten Jahren auch weiterhin Urlaubsziele wegfallen". Nicht nur wegen Corona übrigens, sondern auch, weil die Klimakrise die Temperaturen an etlichen Reisezielen unerträglich machen werde.
Der Experte erwartet in den Alpen und in Mitteleuropa stark steigenden Tourismus. "Das ist zu stemmen, aber wir müssen das Geschehen schon jetzt klar analysieren und Lenkungskonzepte erstellen wie etwa in Nationalparks", fordert er. "Wir brauchen das dringend, denn wir können ja nicht sagen: ,Steigt in den Ferienflieger nach Mallorca, wir wollen euch in den bayerischen Alpen nicht haben, weil ihr dort die Natur stört’". Das könne nicht die Alternative sein, mahnt er.
Dass viele Menschen die heimische Natur entdeckt und durch Spaziergänge und Tagesausflüge in ihren Alltag integriert haben, statt in die Ferne zu fliegen, sei für das Klima und letztlich die Natur ein Vorteil. Und der sei nach seiner persönlichen Meinung größer als der Schaden, den die vielen Ausflügler anrichten. Achtsam mit der Natur umgehen müssen wir trotzdem.