Fürther Exil-Jude:„An jedem Tag denke ich an meine Familie“

13.7.2013, 12:00 Uhr
Fürther Exil-Jude:„An jedem Tag denke ich an meine Familie“

Das Bild hängt direkt vor ihm. Auch jetzt, da Willie Glaser am Telefon über den Atlantik hinweg seine Lebens- und Leidensgeschichte erzählt, blickt er auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme an der Wand, sieht seine Eltern Adele und Ferdinand Glaser, seine Großmutter Esther, sieht sich selbst, den jungen, neugierig wirkenden Mann, der zu der Zeit noch Wilhelm heißt, und schaut in die Gesichter seiner Geschwister Bertha, Leo und Frieda, die Jüngste. „So schöne Kinder“, sagt er und unterbricht plötzlich seinen Satz, „mein Gott, vor allem unser Friederle, sie war so süß.“

Todesweg rekonstruiert

Jeden Tag hat Willie Glaser dieses Familienfoto vor sich, es hängt in seinem Haus im kanadischen Montreal und erinnert ihn an die Zeit, als seine Tage in Fürth noch unbeschwert und glücklich waren. Schon kurz nach dem Schnappschuss leben nur noch er und seine ein Jahr jüngere Schwester Lottie, die auf dem Familienbild schon nicht mehr zu sehen ist, weil sie bereits ins Ausland geflüchtet war. Vater, Mutter, die beiden weiteren Schwestern und der Bruder — alle tot. Ermordet in den Gaskammern der Nazis oder bereits auf dem Weg dorthin.

So ganz genau lässt sich der Todesweg nicht bei all seinen Familienmitgliedern rekonstruieren; aber Willie Glaser hat viele Details der letzten grausamen Stunden, Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre herausgefunden. So wurden seine Mutter und die drei Geschwister mit rund 300 weiteren Juden am 22. März 1942 auf der Fürther Freiheit zusammengetrieben, in den Nürnberger Stadtteil Langwasser gebracht und dann in Güterwaggons nach Polen transportiert. Kurz darauf sind sie im polnischen Vernichtungslager Belzec ums Leben gekommen. Vor eineinhalb Jahren hat er dort die Gedenkstätte für das Massengrab besucht, sagt er. Sein Vater, der die Familie noch nach Frankreich bringen wollte, kam nach einer
langen Todesfahrt wahrscheinlich in Auschwitz ums Leben.

Weit verzweigter Stammbaum

Jahrelang hat Willie Glaser, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Kanada eine neue Heimat fand, Archive und Holocaust-Gedenkstätten nach den Namen seiner Liebsten abgesucht, Akten eingescannt und akkurat angefertigte Listen der Waffen-SS ausgewertet. Am 7. Dezember 1943, um 12.10 Uhr — so heißt es beispielsweise in einem Dokument —, verließ ein Transport Drancy-Bobigny in der Nähe von Paris mit der Endstation Auschwitz — in einem der Waggons war auch die „Nummer 308“, Ferdinand Glaser, geboren am 20. Oktober 1890.

Kleine Geschichten und Chroniken hat Glaser über seine toten Angehörigen verfasst, die weit verzweigten Familien(-Äste) seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zu riesigen Stammbäumen zusammengeführt — und damit ihr Leben in Papierform für die Nachwelt erhalten.

Er selbst konnte noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges seine Geburtsstadt Fürth verlassen und nach Großbritannien ausreisen. Seine Schwester, ein Jahr jünger als er, war bereits mit einem der von englischen Juden organisierten Kindertransporte bei einer Familie in Belfast untergekommen. Da Willie selbst mit 17 Jahren dafür eigentlich schon zu alt war, besorgten ihm seine Eltern ein Extra-Visum, so dass auch der älteste Sohn Nazi-Deutschland gerade noch rechtzeitig verlassen konnte. Danach hat er von seiner Familie nichts mehr gehört.

Wenn Willie Glaser über die Trennung und den Tod, die Auslöschung seiner Angehörigen spricht, schmerzen die Sätze noch immer: „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an meine Familie denke, an meine guten Eltern und meine lieben Geschwister.“ Den Nachgeborenen aber, den heutigen Deutschen, will er keine Vorwürfe mehr machen: „Die Jugend ist nicht mehr die Hitler-Jugend, die Menschen sind in Deutschland auf dem besten Weg.“

Erinnerung an schöne Zeiten

Denn trotz all dem Schrecklichen sieht Glaser Deutschland eben nicht nur als Brutstätte des barbarischen NS-Systems, sondern zugleich als Ort seiner Kindheit und Jugend. Wenn es geht, besucht er seine Heimatstadt alle zwei Jahre, im Oktober 2010 erhielt er den Ehrenbrief der Stadt. „Im Herzen“, sagt er, „bin ich immer noch Fürther, so wie ich ein kleiner Junge war.“

Die Erinnerungen an seine ersten, wohlbehüteten, wunderbaren Jahre haben ihn mit durch sein ganzes Leben getragen. „Ich war ein richtig kleiner Strolch“, berichtet er und lacht in die Telefonmuschel. Als wäre es erst gestern gewesen, berichtet er — so lebhaft und nach wie vor im besten Deutsch mit dem so typisch leicht fränkischen Einschlag — von Völkerball- und Fußballspielen im Hof der jüdischen Schule in Fürth, auch Henry Kissinger, der ehemalige US-Außenminister, habe da manchmal mitgekickt.

Er erzählt vom tagelangen Herumstreichen durch die wunderbare Kleinstadt, vom Nathanstift und von seinen nichtjüdischen Freunden Franzl und Fritzl, mit denen er eine Art Drei-Musketiere-Gespann war, und von denen einer von einem Tag auf den nächsten nicht mehr mit ihm spielen durfte („aber die Mutter hat sich bei meiner Mutter dafür extra entschuldigt“).

Er erwähnt auch das kleine Spielwaren-Lager seines Vaters und die erste Familienwohnung („bis sie für fünf Kinder zu klein wurde“) in der Fürther Blumenstraße 41. „Im Vordergebäude haben wir gewohnt und hinten war da noch eine Möbelfabrik“, sagt er.

Immer wieder hat er bei seinen Besuchen in Fürth die Plätze seiner Vergangenheit aufgespürt, sie von außen betrachtet und dabei an früher ge-
dacht. Dieses Mal ist das jedoch ein bisschen anders: Denn in dem Gebäude, wo die jüdische Familie Glaser einst gelebt hat, ist nun das Altstadthotel untergebracht — und Willie Glaser wird dort für fünf Nächte wieder einziehen.

Willie Glaser ist auf Einladung des Verlags Testimon am Sonntag, 14. Juli, in der Nürnberger Akademie (Gewerbemuseumsplatz 2, Raum 3.11) zu Gast. Beginn der Veranstaltung ist um 15.30 Uhr, der Eintritt ist frei.
 

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