Vergessene Frauengeschichten
14.9.2010, 22:58 UhrDer Blick in den ersten Ausstellungsraum ist unweigerlich mit einem Schockmoment verbunden. Sieben Frauen begegnen einem dort, so lebensecht und alltäglich aussehend, dass man sie auf den ersten Blick für Besucherinnen hält. Dass sie sich trotz unterschiedlicher Kleidung frappierend ähneln und leise vor sich hin zu murmeln scheinen, erhöht die verstörende Wirkung noch.
Sie alle sind „Doppelgängerinnen“ der Künstlerin, nach deren Gesicht, Statur und Händen geformt und, bis auf eine, Figuren aus Künstlerromanen nachempfunden. Wer nah herangeht, hört sie Textpassagen sprechen, doch so herausfordernd lebendig sie auch wirken, sollen diese „Soundskulpturen“ doch daran erinnern, dass ihre literarischen Vorbilder Geschöpfe der Fantasie und also fremdbestimmte Objekte sind.
Um das Rollenbild und die Identität der Frau in einer über alle Jahrhunderte von Männern geprägten Welt geht es in der Kunst von Mathilde ter Heijne. Die 1969 geborene Künstlerin vermittelt ihre kritische Analyse von Geschlechter- und Machtverhältnissen allerdings auf so spannende, undogmatische und bei allem Ernst auch spielerische und optimistische Weise, dass der Besucher sich nie unangenehm belehrt fühlt.
Die Serie „Unknown Women“ stellt anhand von historischen Schwarz-weiß-Aufnahmen 27 Frauen vor, deren Namen und Geschichten nicht überliefert sind und die stellvertretend für die selektive, männliche Geschichtsschreibung stehen. Sakralen Charakter hat eine Installation mit einer großen Schale und schwarzen Kerzen, auf denen in goldenen Lettern die Mechanismen benannt sind, die zu Gewalt und Unterdrückung führen: von „Sexism“ bis „Monotheism“. Gegen eine Geldspende kann der Besucher weitere (unbeschriftete) Kerzen hinzufügen, doch wird die vertraute rituelle Handlung hier gezielt unterlaufen.
Weit irritierender und beunruhigender ist eine Videoinstallation, in der die Stimmen über mehrere Lautsprecher mäandern und in deren Mitte immer wieder eine brennende Frau aufflackert. Ter Heijne setzt hier eindringlich ein zentrales Motiv aus Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“ um, in dem es um die individuelle Mitschuld an politischen Verbrechen geht und die Selbstverbrennung zur größtmöglichen Sühne wird.
Dieser dritte Ausstellungsraum ist der düsterste von allen. Hier gemahnt die Künstlerin an die fatalen Folgen fehlgeleiteter männlicher Machtsysteme. Aber sie zeigt auch Alternativen auf und stellt etwa die matriarchalische Gesellschaftsordnung der Mosuo im Südosten Chinas vor: Eine ethnische Minderheit, die keine festen Ehen, sondern nur nächtliche Besucherehen kennt, in der die Kinder in Familienclans aufwachsen und Gewalt unbekannt ist.
Netzwerkbildung und Selbstermächtigung sind zentrale Stichworte in Mathilde ter Heijnes Werk. In Istanbul hat sie mit über 70 Marktfrauen 2010 das Projekt „Olacak!“ initiiert, das den Frauen Wege zu mehr Eigenständigkeit eröffnet. Als Zeugnis des Aufbruchs zu neuen emanzipatorischen Ufern trugen die Frauen eine riesige, gemeinsam geschaffene Stoffschlange durch die türkische Metropole, die jetzt samt der Videodokumentation in der Kunsthalle ausgestellt ist.
Wir haben es selbst in der Hand, die Welt zu verändern, lautet die nachdenkenswerte Botschaft von Mathilde ter Heijne. Den Anfang kann der Besucher gleich im Foyer machen. Dort hat die Künstlerin ihren „Give and Take“-Shop eingerichtet, der das kapitalistische Warensystem durch den guten, alten Tauschhandel ersetzt.
Kunsthalle Nürnberg, Lorenzer Str. 32; Eröffnung 15. September, 20 Uhr, Performance um 21 Uhr; bis 14. November.