"Der Koran ist wie ein großer Supermarkt"

31.10.2016, 11:09 Uhr
Autor Hamed Abdel-Samad versucht, die vielen Gesichter des Islam zu beschreiben und wirft Fragen auf, die sich sonst kein Muslim zu stellen traut. Dabei spart er nicht mit Kritik an Regierungen oder Religionsgelehrten, was ihm viel Ärger einbringt.

Autor Hamed Abdel-Samad versucht, die vielen Gesichter des Islam zu beschreiben und wirft Fragen auf, die sich sonst kein Muslim zu stellen traut. Dabei spart er nicht mit Kritik an Regierungen oder Religionsgelehrten, was ihm viel Ärger einbringt.

Herr Abdel-Samad, Sie sind bereits mit einer Fatwa belegt, mit einer Todesdrohung. Ihnen war sicher bewusst, dass Sie mit Ihrem neuen Buch "Koran" die Gefahr für sich nicht vermindern.

Hamed Abdel-Samad: Das ist klar. Und gerade deshalb sollte man nicht aufhören mit Büchern. Es gab auch nicht nur diejenigen, die die Fatwa ausgesprochen haben. Auch in Deutschland haben Islamisten Mordaufrufe verfasst – und es wurde konkreter. Diese Islamisten wollen keine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam.

Wenn ich das akzeptiere und keine Bücher mehr schreibe, dann haben sie gewonnen. Und dann gehen sie vielleicht zum nächsten Kritiker, der vielleicht sogar noch milder ist, bis nur noch ihre Stimme zu hören ist, die der Fundamentalisten. Das darf nicht sein. Ich akzeptiere diese Logik nicht.

In Ihrem Buch schreiben Sie, der Koran sei wie ein Supermarkt, in dem sich jeder Moslem die für ihn passenden Stellen aussuchen kann . . .

Abdel-Samad: Genau, der Koran ist wie ein großer Supermarkt. Jeder kann sich beliebig bedienen. Es gibt Produkte für Toleranz, Vergebung und Nächstenliebe. Und es gibt Produkte für Gewalt, Ausgrenzung und Hass. Das Problem ist: Die Regale im Koran sind durcheinander, sie sind nicht gut sortiert, die Produkte sind nicht beschriftet. Das Verfallsdatum (einzelner Suren; Anm. d. Red.) ist nicht angegeben.

Genau das versuche ich in meinem Buch: die Regale neu zu sortieren, chronologisch und thematisch, so dass man weiß, was kam zuerst, was steht über Juden, Christen, Frauen, über Sexualität, und so weiter. Und ich beschreibe den Kontext: In welcher Situation sind die einzelnen Teile entstanden, und was kann am Ende vom Koran übrig bleiben?

Strenggläubige Muslime werden Ihnen vorhalten, dass Sie gar nicht qualifiziert seien, über den Koran zu schreiben.

Abdel-Samad: Dann sollte der qualifizierteste Koran-Gelehrte in Deutschland kommen und mit mir darüber diskutieren. Ich sage das in aller Unbescheidenheit: Es gibt in Deutschland keinen zweiten, der mehr qualifiziert ist, über den Koran zu schreiben.

Ich beschäftige mich mit dem Koran, seit ich drei Jahre alt war. Als Sohn eines Imams habe ich den Koran als Kind auswendig gelernt. Ich habe alle relevante Literatur zum Koran gelesen, ob islamische oder westliche Literatur. Ich habe vier Jahre lang am Lehrstuhl für Islamwissenschaften der Universität Erfurt die Entstehungsgeschichte des Islam unterrichtet. Ich habe am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München jüdische und islamische Kultur unterrichtet.

Was für Qualifikationen braucht man mehr? Dass ich kein Theologe bin, der immer nur versucht, das Buch zu verteidigen und ins beste Licht zu stellen, das ist kein Minuspunkt. Ganz im Gegenteil.

Gab es einen Knackpunkt, an dem sich bei Ihnen Zweifel ausbreiteten?

Abdel-Samad: Schon seit ich acht Jahre alt war. Ich erinnere mich an die Frage, die ich meinem Vater gestellt habe: ,Warum gibt es die Hölle? Ich verstehe nicht, warum uns Gott in der Hölle schmoren lassen will – und zwar ewig.’ Mit 14 habe ich meinen Vater gefragt: ,Woher wissen wir eigentlich, dass dieses Buch von Gott stammt? Wir waren nicht dabei und wir kennen die Leute nicht, die dabei waren.‘

Sie waren später trotzdem Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft.

Abdel-Samad: Ja, natürlich! Zweifel führen nicht automatisch zu Aufklärung oder zur Vernunft. Es ist auch verpönt. Zweifel zu haben ist im Islam eine schwere Sünde. Um sich zu schützen, sucht man sich eine neue spirituelle Heimat und findet das oft bei Fundamentalisten.

Und dann kommt man nach Deutschland, liest die großen Werke der Philosophie, der Aufklärer – Kant, Feuerbach, Espinoza —, und lernt das anzuwenden. Man lernt, dass das Zweifeln, das Hinterfragen keine Sünde ist, sondern im Gegenteil die Voraussetzung für Fortschritt.

Sie haben sich hier auch intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Koran befasst.

Abdel-Samad: Ja. Ich habe gelernt, dass da andere Quellen vorhanden sind, christlich-jüdische Quellen, Zarathustra, altorientalische Mythen, das Gilgamesch-Epos. Da konnte man schon sehen, dass der Koran nicht vom Himmel gefallen ist, sondern teilweise Erzählungen aus anderen Kulturen übernommen wurden und dass es teilweise eine Art Protokoll des Lebens von Mohammed und seiner Gemeinschaft war. Eine Reaktion auf das, was in der Umgebung von Mohammed stattgefunden hat. Und das zeigt schon, dass das ein menschengemachtes Buch ist.

Im September 2014 haben 126 sunnitische Gelehrte einen Offenen Brief an den Führer des „Islamischen Staats“, Abu Bakr Al-Baghdadi, und seine IS-Kämpfer unterzeichnet, in dem sie sich deutlich distanzieren.

Abdel-Samad: Das sind alles Theologen, die islamischen Herrschern untergeordnet sind. Natürlich, wenn Al-Baghdadi die Nationalstaaten infrage stellt, dann schickt der König von Marokko seine Koran-Beamten, auch der Präsident von Ägypten, von Syrien und der König von Saudi-Arabien. Das ist eine Selbstverständlichkeit, dass sie sich zu Wort melden und sagen, dass das un-islamisch ist.

Aber . . .

Abdel-Samad: Sie haben die Theologie der Gewalt, auf die sich der IS beruft, nicht im Kern infrage gestellt. Die 126 Gelehrten haben nicht gesagt, dass der Dschihad im 21. Jahrhundert nicht mehr geht. Sie haben nur gesagt, wer den Dschihad ausrufen darf, nämlich der jeweilige nationale Herrscher. Diese 126 Gelehrten sollen mir erzählen, was macht der IS, was Mohammed und seine Gefährten nicht getan haben?

Eroberungskrieg, Versklavung von Frauen, die man im Krieg erbeutet hat, Vertreibung von Nichtmuslimen aus ihren Heimatstädten. Das alles haben Mohammed und seine Gefährten getan. Es gibt im Koran 206 Passagen, die zu Krieg und Hass aufrufen. Wie kann man dann sagen, dass das un-islamisch ist? Diese Gelehrten haben nicht aus theologischer, sondern aus politischer Sicht gesprochen.

Ihr deutsch-syrischer Kollege Bassam Tibi hat Anfang der 90er Jahre den Begriff Euro-Islam eingeführt. Er hat damit die Hoffnung verbunden, in Europa könnte eine Islam-Variante entstehen, die den Koran mit den Werten der europäischen politischen Kultur verbinden könnte. Er hat diese Hoffnung inzwischen für gescheitert erklärt. Sehen Sie das auch so?

Abdel-Samad: Ich sehe das genauso. Es ist auch sehr traurig. Natürlich war Europa eine Hoffnung, dass hier die Muslime und die Theologen, die in Freiheit und Demokratie leben, das nutzen, um tatsächlich eine fortschrittliche Theologie zu entwickeln, die sich von der Gewalt trennt, die sich von dem Einfluss ihrer Heimatländer emanzipiert. Aber genau das Gegenteil ist passiert.

Und wie schätzen Sie die Debatte in der arabischen Welt ein?

Abdel-Samad: Ich veröffentliche meine Bücher nicht nur auf Deutsch, sondern im Internet auch auf Arabisch. Ich merke, dass es in den arabischen Ländern einen großen Zulauf für meine Videos gibt. Es sind derzeit sieben Millionen Views bei meinen Videos über Mohammed, was eine unglaubliche Revolution im Netz ist.

Viele junge Menschen diskutieren und erkennen, dass der Islam auch teilweise mitverantwortlich ist für die Misere in den Ländern. Aber die Muslime in Europa gönnen sich den Luxus, nur noch den Islam zu verteidigen und keine kritische Debatte zuzulassen. Alles, was kritisch ist, wird als islamophob und populistisch abgestempelt.

Es ist sehr traurig, dass viele Männer und Frauen in der islamischen Welt unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Emanzipation kämpfen und die Europäer helfen nicht genug mit. Auch nicht die muslimischen Intellektuellen im Westen. Die jungen Menschen hier – auch die gebildeten – gehen lieber auf die Straße und demonstrieren für Erdoðan und für die Todesstrafe in der Türkei. Es ist eine Bankrotterklärung der muslimischen Diaspora.

In Europa wird Islam heute vielfach gleichgesetzt mit dem Terror des IS und mit Selbstmordattentaten. Das wiederum spielt Rechtspopulisten in die Hände. Was läuft da schief?

Abdel-Samad: Es ist falsch, immer alles gleichzusetzen. Man sollte eine differenzierte, aber ehrliche Debatte führen. Es gibt den Islam, es gibt die Muslime, und es gibt den IS. Alle drei haben etwas miteinander zu tun, aber sie sind nicht gleichzusetzen.

Der Islam besteht aus mehreren Komponenten, und genau das beschreibe ich in meinem Buch. Es gibt eine spirituelle Seite, eine Soziallehre, die sehr angenehm ist. Es gibt im Islam aber auch eine politische und juristische Seite, die extrem gefährlich ist. Die Welt wird in Gläubige und Ungläubige unterteilt, es wird Gewalt gegen Nichtmuslime befürwortet und sogar als heilige Mission beschrieben. Es gibt Teile im Koran, die den Krieg als Gottesdienst mystifizieren. Das ist die Sprengkraft, da kommt der IS ins Spiel und benutzt diese Stellen.

Was kann man dagegen tun?

Abdel-Samad: Diese beiden Seiten muss man voneinander trennen und sagen: Als Privatsache, für die Soziallehre, für allgemeine Prinzipien ist der Koran geeignet. Aber für Gesetzgebung, für Gesellschaftsordnung, für Familienrecht ist der Koran ein Auslaufmodell. Es gibt modernere Gesetze, die nicht von Gott direkt kommen, sondern von den Menschen.

Wenn man das nicht in der Mitte der Gesellschaft diskutiert, wenn die Politik solche Debatten nicht führt, wenn die Muslime sich verabschieden aus der Debatte, wenn sich deutsche Intellektuelle ihre Finger nicht dreckig machen wollen mit einer Islamdebatte, dann darf man sich nicht wundern, dass sich die Auseinandersetzung nach rechts verlagert.

Ihnen wird mitunter auch vorgeworfen, sie lieferten Gruppen wie der AfD oder Pegida Argumente frei Haus. Sie haben sich mehrfach von AfD-Ortsvereinen als Redner einladen lassen. Das haben viele nicht verstanden …

Abdel-Samad: … weil sie meine Reden dort nicht gehört haben. Meine Reden kann man auf Videos im Internet hören. Liefere ich der AfD Argumente, wenn ich sage, dass eine Politik der Angst, wie sie sie betreiben, gefährlich ist? Liefere ich Argumente, wenn ich sage, dass es unanständig ist, Politik auf dem Rücken der Flüchtlinge zu betreiben, die sich nicht wehren können? Das ist das, was ich bei diesen Auftritten gesagt habe.

Die christliche Kirche hat im 16. Jahrhundert eine Reformation durchgemacht. Kern war eine Trennung von Kirche und Staat. Das kann man sich für den Islam nur schwer vorstellen.

Abdel-Samad: Ja, es gibt eben keine zentrale islamische Institution, die dem zustimmen könnte. Der Koran ist das letzte Wort Gottes. Das ist ja das Hauptproblem. Die Gelehrten leben von dieser Deutungshoheit über den Koran. Man muss diese Politik in Europa aber nicht mitspielen. Man muss mit muslimischen Eltern nicht darüber verhandeln, ob ihre Kinder am Schwimm- oder Musikunterricht teilnehmen, am Sexualkundeunterricht oder an Klassenfahrten.

Wenn wir zum Bild des Supermarkts zurückkommen, dann darf man nicht darauf hoffen, dass der Besitzer die gefährlichen Waren von sich aus aus dem Sortiment nimmt. Er will alles verkaufen. Man soll sich auf die Kunden konzentrieren und die Gefahr erkennbar machen – aber auch die positiven Produkte mehr beleuchten. Man kann nicht darauf hoffen, dass der Islam sich selbst reformiert.

Sondern?

Abdel-Samad: Ich setze darauf, dass die Menschen ihr Denken und ihre Geisteshaltung gegenüber der Religion reformieren. Dass sie diese Trennung vornehmen können, dass Religion eine Privatsache ist und mit Politik und Rechtsordnung im 21. Jahrhundert wenig zu tun hat.

Bleibt die Kernfrage: Passen der Islam und Demokratie zusammen?

Abdel-Samad: Nein, Islam und Demokratie passen nicht zusammen. Der Islam geht davon aus, dass Gott Gesetzgeber ist und nicht der Mensch. Allein das zerstört die Idee der Demokratie. Der Koran sagt, dass Muslime, Juden und Christen nicht gleichberechtigt sind, sondern die Muslime stehen einen Grad höher. Auch Mann und Frau werden nicht gleich gesehen – der Mann steht einen Grad höher. Der Koran teilt die Welt in Gläubige und Ungläubige – und der Begriff Ungläubige ist nicht wie in anderen Religionen. Er ist zugleich eine Anklage, oft ein Todesurteil.

Und wie sieht das mit den Muslimen und der Demokratie aus?

Abdel-Samad: Muslime und Demokratie sind vereinbar. Ich kenne sehr viele muslimische Demokraten. Die sind zwar gläubig, haben aber die politisch-juristische Seite des Islam neutralisiert und konzentrieren sich nur auf die spirituelle und soziale Seite. Wenn die Theologie so ein Modell entwickeln könnte und das Nützliche vom Gefährlichen im Koran trennt, könnten wir sagen, dass diese Form von Islam mit der Demokratie vereinbar wäre.

Aber ich gehe den Weg lieber über die Menschen und nicht über die Ideologie. Ich versuche nicht um jeden Preis an der Ideologie herumzuschrauben, bis sie an die Moderne angepasst ist. Das wird nie passieren. Aber der Mensch kann sich davon lösen.

Hamed Abdel-Samad: Der Koran. Droemer, 240 Seiten, 19,99 Euro

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