"Digitale Medien verleiten zur Oberflächlichkeit"

18.3.2017, 08:00 Uhr

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Herr Professor Spitzer, welche digitalen Medien benutzen Sie denn?

Manfred Spitzer: Ich habe natürlich ein Mobiltelefon und ich benutze auch einen PC. Einen Laptop setze ich ein, wenn ich unterwegs Vorträge halte oder arbeite. Für mich sind das Werkzeuge, die mir die Arbeit erleichtern, und das ist auch völlig in Ordnung.

Warum warnen Sie dann bei Kindern so vehement vor diesen Geräten?

Spitzer: Digitale Geräte nehmen uns geistige Arbeit ab – daher benutzen wir ja diese Werkzeuge. Geistige Arbeit ist aber die Voraussetzung für jegliches Lernen. Denn Gehirne machen keine Downloads. Sie bearbeiten vielmehr Informationen und dadurch ändern sie sich. Das ist im Kindes- und Jugendalter vor allem deswegen so wichtig, weil das Gehirn sich noch durch das Lernen entwickelt und dadurch später optimal funktioniert. Deshalb schaden hier digitale Medien so sehr; denn wenn das Gehirn weniger genutzt wird, kann es sich auch nicht richtig entwickeln. Das kann niemand wollen.

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Jetzt geht aber der Trend dahin, dass Klassenzimmer mit elektronischen Tafeln, den Whiteboards, oder Tablets digitalisiert werden. Ist das eine gute Idee?

Spitzer: Nein, das ist eine ganz schlechte Idee. Digitale Medien im Unterricht lenken erstens ab; der Effekt ist nachgewiesen, es sind etwa zehn bis 15 Prozent weniger Lernerfolg. Zweitens: Elektronische Bücher sind weniger geeignet als solche aus Papier. Wenn man Studenten aus dem Silicon Valley fragt...

...dem Zentrum der US-Computerindustrie...

Spitzer: ... ja, dann sagen sie, bei einem Bildschirm weiß ich nicht, ob das, was da steht, auch stimmt. Beim Lesen von Büchern (aus Papier) ist das anders. Da weiß man, die Inhalte wurden vor dem Drucken lektoriert, überprüft etc. und hat mehr Vertrauen – mit gutem Grund, denn auf Papier drucken ist viel Aufwand. Man druckt nicht leichtfertig jeden Unfug. Deswegen möchten 85 Prozent aller jungen Leute in Kalifornien lieber aus einem Buch lernen. Hinzu kommt: Suchmaschinen kann man umso besser verwenden, je mehr man schon weiß. Wenn man gar nichts weiß, dann hat man nichts davon, wenn einem Google Zehntausende von Treffern auf den Bildschirm bringt. Man kann nämlich nicht beurteilen, was stimmt und was nicht.

Müssen Kinder denn nicht lernen, in irgendeiner Art und Weise mit digitalen Medien umzugehen?

Spitzer: Das Argument entbehrt jeder Grundlage. Eine deutsche Studie aus dem vergangenen Herbst hat untersucht, was passiert, wenn Schüler ihren eigenen Laptop in die Schule mitbringen. Es kam dabei unter anderem heraus, dass nur vier Prozent aller Schüler den Umgang mit dem Computer in der Schule lernen. 2010 waren es immerhin noch acht Prozent. Wenn man also behauptet, die Kinder müssen das in der Schule lernen, dann spricht man erstens nur von einem Kind pro Klasse. Zweitens: Die Studie zeigte, dass in den Laptop-Klassen die Informationskompetenz und der Umgang mit dem Computer nicht besser ist als in den Nicht-Laptop-Klassen. Es ist also einfach nicht wahr, dass Schüler durch die Benutzung von Computer und Internet in der Schule genau diese Benutzung lernen.

Woran liegt es denn, dass Kinder mit Rechner weniger lernen als ohne Rechner?

Spitzer: Digitale Medien lenken die Schüler ab, sie verleiten außerdem zur Oberflächlichkeit – man liest vom Bildschirm, nicht vom Buch. Und wenn ein Student in der Uni mittippt, bleibt weniger hängen als wenn er mit der Hand mitschreibt. Es geht immer um das Gleiche: Die Sachen, die man lernen soll, müssen im Kopf verarbeitet werden. Je komplizierter die Bewegungen beim Schreiben sind, desto mehr muss sich das Gehirn anstrengen und desto mehr bleibt hängen.

In Ihren Augen muss es in der Schule bei Tafel, Kreide und Buch bleiben?

Spitzer: Ja, unbedingt. In Italien hat mir ein Lehrer nach einem Vortrag erzählt, dass er in zwei Klassen genau den gleichen Unterricht macht, einmal voll digital mit Tablets sowie elektronischem Whiteboard, und einmal konventionell mit Tafel und Büchern. Jeden Tag erlebe er, dass er mit herkömmlichen Methoden den besseren Lernerfolg hat. Das Eigenartige dabei ist: In der digitalen Klasse wird er für den schlechteren Unterricht noch besser bezahlt. Für digitalen Unterricht muss man sich qualifizieren, und dann gibt es mehr Geld für den "qualifizierteren Unterricht".

Wie sollen denn dann Eltern ihre Kinder an digitale Geräte heranführen?

Spitzer: Gar nicht. Man muss die Kinder stattdessen so lange es irgend geht davor schützen. Was wir alle immer vergessen: Digitale Geräte schaden der Gesundheit. Sie verursachen Haltungsschäden, Dickleibigkeit, einen hohen Blutdruck, Depressionen und Angstzustände. Außerdem erzeugen sie in einem hohen Ausmaß Sucht. Wie ich meine Kinder an ein Suchtmittel, das zudem deren Gehirnentwicklung beeinträchtigt, "heranführen" kann, ist deshalb die falsche Frage. Wir sollten sie vielmehr nicht "anfixen" (wie man das bei Drogen nennt)! Zudem sollten Eltern bedenken: Ich gebe doch nicht meiner 13-jährigen Tochter unbegrenzten Zugang zum größten Rotlichtbezirk und zum größten Tatort der Welt. Das tue ich aber, wenn ich ihr ein Smartphone schenke.

Soll es dann Smartphone, Tablet oder Rechner erst ab 18 geben?

Spitzer: Wir erlauben den Führerschein auch erst ab 18, weil wir das Gefühl haben, für den Umgang mit dem Auto ist eine gewisse Reife, Mündigkeit und Verantwortung nötig. Gesamtgesellschaftlich werden wir lernen müssen, dass es sich mit digitalen Medien nicht viel anders verhält.

Jetzt haben aber gerade soziale Medien wie Facebook auf Jugendliche eine unglaubliche Faszination. Woran liegt das denn?

Spitzer: Zucker hat auch eine unglaubliche Faszination auf kleine Kinder, deshalb möchten sie so viele Bonbons essen. Kinder, die vor 100.000 Jahren Zucker abgelehnt haben, sind bei der nächsten Hungersnot gestorben. Genauso, wie junge Menschen Zucker mögen, wollen sie auch mit anderen Menschen zusammen sein. Wir sind nun einmal Gemeinschaftswesen. Facebook liefert aber keine wirkliche soziale Erfahrung; US-Autoren formulieren es so: Man ist da zusammen allein. Nachgewiesen ist, je mehr jemand Facebook nutzt, desto depressiver und ängstlicher wird er, desto weniger Sozialkontakte hat er. Facebook macht Kinder unglücklich, dazu gibt es nicht eine, sondern ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Untersuchungen.

Fernsehen ist gegenüber diesen neuen Medien eine fast schon überholte Technik. Ist es deshalb weniger gefährlich?

Spitzer: Fernsehen ist am besten untersucht und wahrscheinlich nicht so gefährlich wie die neueren digitalen Medien. Der Konsum wird etwas zurückgedrängt, von früher drei auf heute gut zwei Stunden, weil neuere Medien verstärkt beansprucht werden. Jugendliche nutzen elektronische Angebote heutzutage acht Stunden täglich, so die neuesten Zahlen. Das ist richtig viel, und irgendwann ist nun einmal die wache Zeit vorbei. Lassen Sie mich bitte noch ergänzen: Weil es Fernsehen seit 60 Jahren gibt, liegen dazu alle Daten der Welt vor. Man muss tatsächlich sagen: Es beeinträchtigt die Bildung und die körperliche Aktivität, es macht schlichtweg dick. Je länger Jugendliche Fernsehen schauen, desto aggressiver werden sie. Das Fernsehen macht also dick, dumm und aggressiv. Es gibt sehr viele sehr gute Studien, die das ganz klar zeigen.

Liegt das ebenfalls daran, dass das Hirn nicht mehr genutzt wird?

Spitzer: Wissenschaftler haben in einer über Jahrzehnte laufenden Studie an über Tausend Kindern zunächst ermittelt, wie lange die Kinder im Alter von fünf Jahren täglich Fernsehen geschaut hatten. Gut 25 Jahre später hat man dann nachgeschaut, was aus ihnen geworden ist. Da gab es himmelweite Unterschiede. In der Gruppe, die mit fünf Jahren weniger als eine Stunde täglich ferngesehen hatte, erwarben 40 Prozent einen Uniabschluss, knappe zehn Prozent hatten die Schule abgebrochen. Bei der Gruppe mit mehr als drei Stunden TV-Konsum gab es dagegen knappe zehn Prozent Uniabsolventen, aber 25 Prozent Schulabbrecher. Wenn man nun zusätzlich noch bedenkt, dass eine hohe Bildung der beste Schutzfaktor gegenüber der Entwicklung einer Demenz im Alter ist, dann wird klar, warum ich in diesem Zusammenhang von digitaler Demenz spreche.

Eltern sollten also den Fernseher aus dem Wohnzimmer nehmen und erst wieder hineinstellen, wenn die Kinder volljährig sind?

Spitzer: Das haben wir privat so gehalten. Denn was Eltern vormachen, ahmen Kinder nach. Wenn die Eltern viel am Computer sitzen oder auf ihr Smartphone schauen, dann müssen sie sich nicht wundern, wenn die Kinder das ebenso halten. Väter und Mütter müssen auch wissen, dass sich das auf die Bildungsbiografie des Nachwuchses negativ auswirkt. Wenn auch heute überall gesagt wird: Digital macht schlau, so stimmt es trotzdem einfach nicht. Wir verdummen unsere Kinder. Die Tabaklobby hat uns auch mehr als fünf Jahrzehnte lang gesagt, dass Rauchen unschädlich sei, und wir hatten jährlich 140 000 Tote in Deutschland. Jetzt sagen uns die reichsten Firmen der Welt - Apple, Microsoft und Google -, wie toll "digital" für unsere Kinder ist. Aber es ist einfach falsch, wir schaden ihnen damit, und wir schaden unserer Gesellschaft. Wir geben jetzt schon Milliarden dafür aus, um unseren Kindern zu schaden, und werden künftig noch weit mehr ausgeben müssen, um die Schäden behandeln.

Wie sehen es Ihre sechs Kinder heute, dass sie zu Hause nicht fernsehen durften?

Spitzer: Die sehen das genauso wie ich. Die Behauptung stimmt nicht, dass Kinder, die zu Hause nicht fernsehen durften, nach ihrem Auszug dann ganz viel fernsehen würden. Wer mit nur wenig TV aufwächst, wird auch später weniger fernsehen. Als unsere Kinder einmal 18, 19, 20 Jahre alt geworden waren, hatten sie Besseres zu tun als vor einer Mattscheibe zu hocken. Jeder, der in Kindheit und Jugend eine gute Entwicklung durchgemacht hat, hat als Erwachsener dann genug Grips im Schädel, um mit seiner Zeit etwas Besseres anzufangen als Monster abzuschießen oder stundenlang zu daddeln. Dazu muss man die Kinder erst einmal bilden, und das geht nicht mit Bildschirm, sondern ohne.

In Nürnberg sprechen Sie nicht über digitale Medien, sondern gleichsam über das Gegenprogramm zur digitalen Welt.

Spitzer: Ja. Ich möchte zeigen, wie Erfahrungen entstehen und was die Natur mit uns macht. Man könnte ja fragen: Wie sehen denn Alternativen zur digitalen Welt aus? Eine ist: Natur erleben. Das führt nicht nur dazu, dass man wieder draußen ist, sich bewegt und Sauerstoff tankt. Das ist viel zu banal. Es ist viel toller, und es ist nachgewiesen: Wir können besser denken, wir sind kreativer, wir sind mitmenschlicher, wir haben ein besseres Gefühl für die Bedürfnisse anderer Menschen. Ich möchte nicht nur "Mr. Computerhasser" sein (was ohnehin nicht stimmt!), sondern möchte auch gerne erzählen, was man Gutes tun kann. Für sich und seine Kinder.

Professor Manfred Spitzer spricht in Nürnberg über "Sinne, Werte, Moral. Von der Wahrnehmung zur Ethik" im Rahmen der Vortragsreihe "Vom Reiz der Sinne". Dienstag, 21. März, um 19.30 Uhr im Planetarium Nürnberg, Am Plärrer 41. Anmeldung übers Bildungszentrum/Planetarium, Restkarten vor Ort: 7,50 / 5 Euro ermäßigt. Hintergrundinformationen und Anmeldelinks: http://kortizes.de/vortragsreihen

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