Was bedeutet "konservativ" heute noch?

Nach Merkel: Wie CDU und CSU sich positionieren müssen

10.7.2021, 15:58 Uhr
Nach Merkel: Wie CDU und CSU sich positionieren müssen

© Foto: Michael Sohn/afp

Vielleicht ist es bald vorbei. Erstmals seit dem Jahr 2005 erscheint es als realistisches Szenario, dass CDU/CSU nicht mehr den nächsten Regierungschef oder die nächste Regierungschefin dieser Republik stellen werden. Nach 16 langen Jahren, einer Periode, die durch eine hohe Frequenz ökonomischer, sicherheits-, außen- und migrationspolitischer Krisen bestimmt wurde. Einer Zeit, in der die Union unter Angela Merkel, zumindest gemäß des eigenen Selbstverständnisses, als sicherer Navigator durch unruhige Gewässer agierte.

Nun könnte eine andere politische Kraft den Platz im Kanzleramt übernehmen. Lange sah es so aus, als ob dafür nur die Grünen infrage kämen. Einige Irritationen um deren Spitzenkandidatin Annalena Baerbock später erscheint auch ein Kanzler Olaf Scholz nicht mehr völlig ausgeschlossen. Die Möglichkeit des Machtverlusts ist charakteristisch für eine Demokratie - und doch trifft sie die Union ins Mark. Im Juli 2021 erscheinen die Unionsparteien als Koloss auf tönernen Füßen, der, mit den Armen rudernd, mühsam darum ringt, auf den Beinen zu bleiben.


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Die Frage, welche Relevanz der Union in der Nach-Merkel-Ära zukommt und ob es ihr gelingen kann, die mit Abstand stärkste Partei zu bleiben, lässt sich nicht allein auf personeller Ebene beantworten. Vielmehr geht es um eine programmatische Ausrichtung der Schwesterparteien, die klären müssen, was Konservativismus in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts bedeuten soll. Und, ob es so etwas wie einen progressiven Konservativismus geben kann, oder ob er der unauflösbare Widerspruch bleibt, der er auf den ersten Blick zu sein scheint.

Bewahren und verbessern

Der Konservativismus, der sich heute längst als eine der zentralen politischen Strömungen etabliert hat, entsprang dem wohl folgenreichsten Wandel der neueren Geschichte Europas: der französischen Revolution. Als Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich entwarf der britische Schriftsteller und Philosoph Edmund Burke kurz vor Ende des 18. Jahrhunderts so etwas wie das ideologische Fundament des Konservativismus. Er kritisierte an der französischen Revolution die radikale Zerstörung der zuvor bestehenden gesellschaftlichen Ordnung.



Diese betrachtete Burke als Resultat eines historischen Wachstums- und Reifeprozesses und maß ihr eine Würde zu – ohne sich aber grundsätzlich Veränderungen an ihr zu verschließen. "Bereitschaft zum Bewahren und Fähigkeit zur Verbesserung, beides zusammen, das wäre mein Maßstab für einen Staatsmann", fasste er seine Philosophie zusammen. Der frühe Konservativismus, dessen Eckpfeiler Burke formulierte, begreift den Menschen als fehlerhaftes Wesen, das in Tradition, Religion und Gemeinschaft verwurzelt ist.

Über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg haben seither politische Akteure auf verschiedene Art versucht, diese Grundannahmen in ein politisches Programm zu übersetzen. Das hat dazu beigetragen, dass die Konturen konservativer Politik vielen inzwischen als verwaschen erscheinen. "Konservativ ist heute ein vergleichsweise schwammiger Allgemeinbegriff geworden", sagt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung in Halle.

"Auf einer klassischen Links-Rechts-Skala würde man konservativ aber etwas rechts der Mitte einordnen." Außerdem zeichne sich der Konservativismus durch seine Verbundenheit zu Institutionen wie dem Staat, der Familie oder der Rechtsordnung aus. Für den Nürnberger CSU-Bundestagsabgeordneten Michael Frieser bedeutet konservativ zu sein „zunächst einmal, die Realität zu akzeptieren, wie sie ist, auf der Grundlage eines Menschenbildes daraus Zukunft zu gestalten und sich nicht einer Ideologie unterzuordnen".

Wie bleibt man Volkspartei?

Die Unionsparteien sind es, die den Anspruch erheben, konservative Politik zu machen. Doch die Frage, was das in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts konkret heißt, ist alles andere als trivial. In seinem Buch "Konservativ 21.0" formuliert der Historiker Andreas Rödder eine konservative Agenda der Neuzeit. Kerninhalte einer konservativen Politik sieht er etwa in dem Eintreten für wenig Staatsverschuldung, einen schlanken Sozialstaat, höhere Militärausgaben und sichere Außengrenzen.

Diese Grundsätze sind nicht neu und haben im konservativ-wirtschaftsliberalen Spektrum der Bevölkerung durchaus ihren Resonanzraum. Aber reicht das? Will die Union ihren Status als Volkspartei bewahren oder gar festigen, so wird sie auch Wählerschichten an sich binden müssen, die nicht dem traditionell-konservativen Milieu entstammen. Angela Merkel ist genau dies über weite Strecken ihrer Amtszeit hinweg gelungen – auch wenn ihre ausgleichende Politik von Teilen der eigenen Partei als programmatische Entkernung wahrgenommen wurde.


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Doch Merkels Zeit ist vorbei. Vielmehr sehen sich CDU/CSU heute in einem Wettbewerb mit einer Partei, die sich über die vergangenen Jahre zu einer Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einer besseren Welt entwickelt hat: den Grünen. Auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums lauert mit der AfD eine, mindestens in Teilen, rechtsradikale und verfassungsfeindliche politische Kraft, die sich stets darum bemüht, enttäuschte Konservative an sich zu binden.

Wer als Volkspartei erfolgreich sein will, ganz egal, ob konservativ oder nicht, dem muss es gelingen, einen möglichst breiten Ausschnitt einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft zu erreichen. Vor allem gilt es, einen großen Teil der Mittelschicht von sich zu überzeugen. Obwohl sie in den vergangenen 30 Jahren geschrumpft ist, trägt sie das Land noch immer. Nicht zuletzt durch eine hohe Wahlbeteiligung.

Gespaltene Gesellschaft

Diese Mittelschicht aber, so diagnostiziert der Soziologe Andreas Reckwitz, teilt sich zusehends in zwei Gruppen auf: der neuen Mittelklasse einerseits und der alten Mittelklasse andererseits. Die neue Mittelklasse besteht vornehmlich aus Akademikern, die im urbanen Milieu wohnen, sich als Kosmopoliten verstehen und nach Selbstentfaltung streben. Migration und gesellschaftliche Vielfalt erleben sie als Bereicherung, klimapolitische Fragen genießen für sie hohe Priorität.


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Die alte Mittelklasse umfasst nach Reckwitz dagegen eher Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen, die in Kleinstädten oder auf dem Land leben. Sie haben einen traditionell geprägten Wertehorizont mit den Säulen Arbeit, Familie, Religion und Heimat. In der zunehmend dogmatisch geführten identitätspolitischen Debatte etwa, findet sich diese Gruppe nicht wieder.

Stimmt Reckwitz‘ Diagnose der zweigeteilten Mittelschicht, so läge es aus Sicht der Union nahe, sich in der Klimapolitik progressiver zu positionieren als bisher, um die neue Mittelklasse anzusprechen. Schließlich lässt sich Klimaschutz, im Sinne der Bewahrung der Schöpfung, durchaus als konservatives Thema interpretieren.

In der Debatte um gendergerechte Sprache hingegen könnten CDU/CSU eine prononciert ablehnende Haltung annehmen, wie es einige ihre Vertreter ohnehin schon tun, um die alte Mittelklasse zu erreichen. Der CSU-Politiker Frieser ist skeptisch gegenüber derartigen, eher taktisch motivierten, Überlegungen. "Politikfelder lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen", findet er. Überhaupt ist Klimapolitik für ihn "keine Frage der Weltanschauung, sondern der Wettbewerbsfähigkeit".

Eine "Politik des UND"

Ähnlich sieht das der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der den Unionsparteien vorlebt, wie ein moderner, grüner Konservatismus aussehen kann. "Nachhaltig ist das neue Konservativ", stellte er schon 2018 in seinem Buch "Worauf wir uns verlassen wollen" fest. Ein Narrativ, das ankommt. In der Bevölkerung und auch außerhalb Kretschmanns eigener Partei. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder etwa spricht längst nicht mehr von "Asyltourismus", sondern will "Schrittmacher für mehr Klimaschutz" sein und sucht seit geraumer Zeit bei Fototerminen auffällig oft die Nähe zu Bäumen.


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Doch Kretschmanns Vorstellung von einem zukunftsbejahenden Konservativismus umfasst mehr als Klima- und Artenschutz. Er skizziert die Idee einer "Politik der guten Mitte", die den Kompromiss schätzt und unter Berücksichtigung aller Argumente um den besten Weg ringt. Und die schützt, was Gemeinschaft stiftet: Vereine, Verbände, Parteien, Kirchen. Kretschmann spricht von einer "Politik des Und", von Ökologie und Ökonomie, von Heimat und Weltoffenheit, von Sicherheit und Freiheit. So könne man als Konservativer "am Grundrecht auf Asyl festhalten ohne zu negieren, dass es Grenzen der Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft gibt".

Es ist eine neue Form des Konservativismus, die sich mit aufgeklärtem Blick der Frage stellt, wie sich traditionelle Wertvorstellungen auf die Herausforderungen der Zukunft anwenden lassen. Dennoch bleibt wahr, was der Politikwissenschaftler Holtmann zu bedenken gibt: "Es ist eine gewisse Herausforderung, konservative Politik zu machen, ohne vorgestrige Positionen wiederzubeleben." Aber es geht, es wird gehen müssen, will die Union dauerhaft die stärkste politische Kraft in Deutschland bleiben. Mit strukturkonservativer Vergangenheitsglorifizierzung, die in erster Linie auf die Sicherung monetärer und gesellschaftlicher Privilegien für die eigene Klientel abzielt, wie sie Friedrich Merz verkörpert, wird das nicht gelingen. Die Union muss sich als die politische Kraft definieren, die wertebasiert Zukunft gestalten will.

Digitalisierung und Kilmaschutz: Den Wandel gestalten

Das setzt allerdings voraus, dass sie, anders als zuletzt im Maskenskandal, Werte wie Anstand, Respekt, Verantwortungsbewusstsein und Ehrlichkeit nicht innerhalb der eigenen Partei grob missachtet. Angesichts zunehmend aufgeheizter öffentlicher Debatten und einer auseinanderdriftenden Gesellschaft scheint auch eine Rückbesinnung auf Versöhnung und Ausgleich notwendig, die Frieser als historische Leitmotive konservativer Politik versteht: "Konrad Adenauer hat Deutschland und Frankreich, sowie die Konfessionen versöhnt, Ludwig Erhard Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Franz-Josef Strauß Tradition und Moderne, Helmut Kohl Ost und West, Angela Merkel schließlich Krise und Stabilität."


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Auch wenn es einige Mühe kostet, in Franz-Josef Strauß einen Versöhner zu sehen, so wäre es aus Sicht der Unionsparteien klug, sich als ausgleichende, vermittelnde Kraft in der Gesellschaft zu positionieren. Eine nicht, ganz zu unrecht, oft kritisierte Einstellung könnte ihnen dabei helfen: die Skepsis allzu weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber. In einer Zeit, in der sich die Welt schneller zu wandeln scheint als je zuvor, könnte sich das als Stärke entpuppen. Nämlich dann, wenn es den Konservativen gelingt, den notwendigen tiefgreifenden Wandel, etwa beim Klimaschutz oder in der Digitalisierung, so abzufedern und zu gestalten, dass er für eine Gesellschaft überhaupt erst bewältigbar wird.

Ein Konservativismus, der sich als umsichtiger Gestalter statt als Bewahrer tradierter Strukturen versteht, wird auch in Zukunft relevant bleiben. Vielleicht ist es also doch noch nicht vorbei.

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