Paritätischer-Chef in Nürnberg: "Armut in Deutschland ist gewollt"

25.2.2021, 11:45 Uhr
"Armut beginnt, wenn einem die finanziellen mittel fehlen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen", sagt Ulrich Schneider.

© Stephanie Pilick, NNZ "Armut beginnt, wenn einem die finanziellen mittel fehlen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen", sagt Ulrich Schneider.

„Im neoliberalen Menschenbild ist Armut ein Disziplinierungsmittel, eine Strafe für das eigene Versagen“, führt Schneider in der virtuellen Veranstaltung Zeitenwechsel beim DGB Mittelfranken aus. Armut werde – anders formuliert – also gewünscht, um den Arbeitseinsatz zu steigern.


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Die Problematik habe in Deutschland freilich schon vor der Corona-Krise bestanden. „Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich durch Corona nun aber weiter geöffnet“, stellt Ulrich Schneider nüchtern fest. Getroffen habe es vor allem jene, die bereits vor dem Virus armutsgefährdet waren.

Ab wann ist jemand überhaupt arm? Wenn man unter der Brücke schläft oder Flaschen sammelt? „Das ist keine Armut, sondern schon Verelendung“, echauffiert sich Schneider und stellt klar: „Armut beginnt, wenn einem die finanziellen Mittel fehlen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“

Armut lässt sich also am Einkommen messen. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung hat, so Schneider. Das entspreche etwa 1080 Euro in einem Single-Haushalt. In Deutschland sind laut DGB 13,2 Millionen Menschen direkt von Armut betroffen.


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Manche Gruppen sind besonders gefährdet. An erster Stelle stehen Arbeitslose. Etwa vier Millionen Menschen bekommen den Hartz-IV-Regelsatz von 446 Euro, führt Stephan Doll, Geschäftsführer des DGB Mittelfranken, aus. Zwar übernimmt der Staat zum Beispiel die Mietkosten. Dennoch reiche der geringe Regelsatz bei weitem nicht, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, ergänzt Schneider und fügt hinzu, dass Arbeitslose nicht automatisch arm sein dürften. „Wir haben eine Arbeitslosenversicherung, um genau das zu verhindern.“

Umgekehrt ist nicht jeder Arme gleichzeitig arbeitslos. Etwa 1,2 Millionen der Hartz-IV-Empfänger haben eine sozialversicherungspflichtige Arbeit – das Einkommen sei jedoch zu niedrig, so die Rechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Betroffen sind oft Alleinerziehende im Niedriglohnsektor, die nicht Vollzeit arbeiten können, da sie sich um die Kinder kümmern. Sie müssen ihr Gehalt dann mit Grundsicherung aufstocken.

Nur Geld hilft

Ebenfalls besonders gefährdet: kinderreiche Familien, Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und Rentner. Letztere stellten etwa ein Drittel der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland dar, so der DGB. Der Verband fordert daher ein Rentenniveau von mindestens 53 Prozent. Derzeit sind es rund 47 Prozent.


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„Wir müssen die Mindestsätze auf 600 Euro erhöhen“, fordert Schneider. Allem voran den Hartz-IV-Regelsatz von 446 Euro. Ergänzend solle auch die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes I für langjährige Beitragszahler verlängert werden. Das Kindergeld soll ebenfalls bis zu 600 Euro – bisher maximal 250 Euro – betragen, bei höherem Einkommen aber auch geringer ausfallen. Vor allem angesichts von armutsgefährdeten Kindern heiße es häufig aus den Reihen der Politik: Bildung sei der Schlüssel. „Wer eine gute Bildung genießt, hat natürlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das hilft aber akut erst mal nicht“, glaubt Schneider. Nicht die Kinder seien arm, sondern die Familien. Ihnen müsse geholfen werden und das gehe nur mit Geld.


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Nach den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes würde es etwa 25 Milliarden Euro kosten, um die Armut zu bekämpfen. „Wir sind eine Volkswirtschaft, die das verschmerzen könnte“, ist Ulrich Schneider überzeugt. Finanzierungsmöglichkeiten ergäben sich aus einer höheren Erbschaftssteuer; und auch beim Verteidigungshaushalt solle der Rotstift angesetzt werden. „Bevor wir den auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen, entscheide ich mich eher für die Finanzierung der Armutsbekämpfung und somit den inneren Frieden in Deutschland.“

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