Warum der Bundestag immer weiter wächst

4.5.2021, 05:55 Uhr
Blick in den Plenarsaal im Reichstagsgebäude: Dort wird es zusehends enger.

© Frederic Kern/imago images Blick in den Plenarsaal im Reichstagsgebäude: Dort wird es zusehends enger.

Das spannendste an einer Bundestagswahl ist, welche Partei welchen Stimmenanteil ergattern wird. Gibt es eine Neuauflage der GroKo, reicht es für Schwarz-Grün, oder müssen alle ganz neu denken? Während viele sich um mögliche Regierungs-Konstellationen Gedanken machen, plagen die Bundestagsverwaltung ganz andere Sorgen: Wie viele Stühle müssen in der kommenden Legislatur noch in den Plenarsaal im Reichstag gequetscht werden?


So funktioniert's: Ausgleichs- und Überhangmandate


598 Abgeordnete soll das deutsche Parlament eigentlich haben. Derzeit sind es 709. Und es ist denkbar, dass das nächste Parlament auf bis zu 800 Abgeordnete oder gar mehr anwächst – wegen der berühmt-berüchtigten Ausgleichs- und Überhangmandate. Dabei hat die Bundesrepublik jetzt schon die zweitgrößte Volksvertretung der Welt. Nur der Nationale Volkskongress in China ist mit 2980 Delegierten noch größer. Selbst das gigantische Indien kommt mit 545 Abgeordneten aus; im Repräsentantenhaus der USA sitzen 435 Männer und Frauen. Was läuft da schief?

Der Fehler liegt im System

Salopp gesagt: Der Fehler liegt im System. Aktuell gibt es 299 Wahlkreise, jeder Wahlberechtigte hat zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählen Bürger die Vertreter der Wahlkreise direkt ins Parlament – daher heißen diese „Direktkandidaten“. Vor allem in Bayern und Baden-Württemberg holen CDU und CSU besonders viele Direktmandate, und zwar mehr, als ihnen nach dem Zweitstimmenanteil zusteht.

Mit der Zweitstimme werden die Abgeordneten über Landeslisten gewählt. Mit ihr wird entschieden, wie stark (in welchem prozentualen Verhältnis) die jeweiligen Parteien im Bundestag vertreten sind. Wer seinen Wahlkreis gewinnt, hat automatisch einen Sitz im Parlament (Direktmandat), auch wenn der Partei laut Zweitstimmenergebnis insgesamt weniger zustehen würden. So muss ein Ausgleich für anderen Fraktionen gefunden werden (Ausgleichsmandat), damit das Wahlergebnis als Ganzes nicht verzerrt wird. Unweigerliche Folge: Das Parlament wächst. Und im Grundgesetz ist keine Obergrenze vorgesehen.

Das stößt nicht nur dem Bund der Steuerzahler auf. Der hat letztes Jahr, als es mal wieder um eine Wahlrechtsreform ging, vorgerechnet, dass ein Bundestag mit 800 Abgeordneten den Steuerzahler pro Jahr mit 64 Millionen Euro mehr belasten würde. Diese Zahl bezieht sich nur auf mandatsbezogene Kosten; die Mehrkosten, die etwa für die Bundestagsverwaltung anfallen würden, sind da noch unberücksichtigt.

Der stetig wachsende Bundestag beschäftigt immer wieder das Bundesverfassungsgericht, regelmäßig mahnt es eine Reform des Wahlrechts an. Passiert ist bisher wenig. Das Thema wird ab und an in diversen Gremien und Arbeitsgruppen aufgegriffen, versandet aber stets wieder im politischen Alltagsgeschäft.

Etwas Bewegung in die Sache kam letztes Jahr, als Grüne, Linke und FDP gemeinsam einen Gesetzentwurf vorlegten, der unter anderem die Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 250 vorsah. Doch damit rannten die Oppositionsparteien bei der Union gegen eine Wand. Was Wunder – CDU und CSU profitieren von den herrschenden Verhältnissen schließlich am meisten, sie hatten bei der vergangenen Wahl mehr als drei Viertel aller Direktmandate errungen.

Karlsruhe: Wahlrecht ist verfassungswidrig

"Wenn du einen Sumpf trockenlegen willst, darfst du nicht die Frösche fragen“, unken daher Beobachter und setzen ihre Hoffnung aufs Bundesverfassungsgericht. Die Männer und Frauen in den roten Richterroben hatten die geltende Fassung des Wahlrechts 2012 zwar für verfassungswidrig erklärt, halten sich jedoch vornehm zurück, wenn es darum geht, konkrete Vorschläge zu präsentieren, wie man dem Dilemma "aufgeblähter Bundestag“ entkommen könnte. Diese Kuh, so lässt es sich aus den Karlsruher Beschlüssen zwischen den Zeilen herauslesen, sollten die Politiker lieber selber vom Eis holen.


Kommentar: Abgeordnete sind in eigener Sache überfordert


Unter dem Druck der Opposition kam im Herbst 2020 etwas Bewegung in die Sache, aber mehr als ein "Reförmchen“ ist dabei nicht herausgekommen. Die neue Regelung sieht vor, dass Überhangmandate mit Listenplätzen der Partei in anderen Bundesländern teilweise verrechnet werden. Außerdem sollen beim Überschreiten der Regelgröße des Bundestags (598 Sitze) bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Das wird bei der anstehenden Wahl, optimistisch betrachtet, überschaubare Auswirkungen haben. Parteienforscher sind sich einig, dass die einzige Partei, die darunter nicht leiden wird, die CSU ist – sie dürfte durch das Reförmchen wohl kein einziges Mandat in Berlin einbüßen.

Kleiner Unsicherheitsfaktor: Der Höhenflug der Grünen. Sie könnten es laut diversen Prognosen schaffen, bundesweit um die 20 Direktmandate mehr zu gewinnen als üblich. Das würde bei der geltenden Arithmetik bedeuten, dass es weniger Überhangmandate gäbe, das Parlament also etwas weniger aufgebläht wird.

Mit sehr starken Effekten, also einer drastischen Reduzierung der Abgeordnetenzahl, rechnet indes niemand. Die dürften erst ab 2024 messbar werden, wenn die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 sinken soll.

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