"Wir müssen die Schwächsten der Gesellschaft schützen!"

11.6.2016, 20:16 Uhr

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Welches Menschenbild steht hinter dem Ansinnen, Arzneiversuche an Demenzkranken durchzuführen?
Peter Dabrock: Wer Arzneiversuche an Nichteinwilligungsfähigen durchführt, sei es an Demenzkranken oder an Kindern, ohne die Zustimmung von deren Betreuern eingeholt zu haben und ohne die Nichteinwilligungsfähigen möglichst intensiv in die Entscheidung eingebunden zu haben, hat ein schreckliches Menschenbild. Ein solches Handeln verletzt die Würde der Betroffenen, degradiert sie zu puren Objekten und wird deshalb bei uns zu Recht als eine Straftat angesehen.

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Aber viele machen ja freiwillig mit.
Dabrock: Ja. Es verhält sich anders, wenn Menschen nach entsprechender Aufklärung für sich entschieden haben: „Auch wenn es mir selbst nicht mehr zugutekommt, möchte ich, dass die Demenzforschung vorangeht. Sollte ich an Demenz erkranken und nicht mehr einwilligungsfähig sein, bin ich grundsätzlich bereit, mich an einer Studie mit minimalem Risiko zu beteiligen, damit andere etwas davon haben.“ Eine solche vorausblickende Entscheidung ist Ausdruck von Selbstbestimmung. Sie erachte ich deshalb keineswegs als Verletzung der Menschenwürde. Wie die Bereitschaft zur Organspende kann sie als ein Ausdruck von Solidarität mit anderen angesehen werden. Und doch gibt es ein Problem.

Worin liegt dieses?
Dabrock: Beim Organspendeausweis erlaube ich eine fremdnützige Verwendung meines Körpers, wenn ich nicht mehr lebe. Bei der jetzt geplanten Gesetzesänderung soll eine fremdnützige Maßnahme erlaubt werden, wenn die Person lebt, aber nicht mehr im rechtlichen Sinne einwilligen kann.

Sollte man dann nicht grundsätzlich auf Arzneiversuche verzichten, wie es viele Kritiker verlangen?
Dabrock: Wenn das Ganze darauf hinausliefe, dass ein Demenzkranker, wenn er in einer Vorausverfügung die Teilnahme an solchen Studien grundsätzlich erlaubt hat, auf Gedeih und Verderb teilnehmen müsste, wenn es dem forschenden Arzt oder dem Betreuer gefällt, dann dürfte man eine solche Verfügung ethisch und rechtlich nicht zulassen. Aber so ist es nach den geplanten gesetzlichen Vorgaben ja gar nicht. Gibt ein Demenzkranker zu verstehen, dass er trotz der Vorausverfügung nicht teilnehmen möchte – er wehrt sich etwa körperlich gegen eine Speichelprobe, dann ist das ohne Wenn und Aber zu respektieren. Der aktuelle Willensausdruck hat immer Vorrang.

Warum dann die ganze Aufregung?
Dabrock: Die kommt nicht zu Unrecht daher, dass die Verantwortlichen in Politik und Ministerien wohl nicht richtig eingeschätzt haben, dass der Umgang mit Nichteinwilligungsfähigen bei uns zu Recht ein ganz heißes Eisen ist. Eine öffentliche Debatte, in der um den Sinn und auch die Grenzen solcher Versuche gerungen werden muss, fehlte. Dass dann die kritischen Reaktionen umso heftiger ausfielen, als die Frage von den Kirchen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht wurde, darf niemanden überraschen. Nun sollte man nach dieser berechtigten Kritik am Verfahren aber nach vorne schauend diskutieren, ob die anstehende Gesetzesänderung vertretbar ist oder nicht. Dies ist eine nun drängende Debatte.

Worin sehen Sie das Hauptproblem bei dieser Debatte?
Dabrock: Das Hauptproblem sehe ich darin, dass wir einen verantwortlichen Ausgleich finden müssen, auf der einen Seite die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen, sie nicht zum reinen Objekt von Forschungsbegierden zu degradieren, und zum anderen aber genau diese Menschen – und im Bereich Demenz werden es immer mehr – nicht vom medizinischen Fortschritt abzukoppeln.

Sie fordern eine Abwägung: Die Ergebnisse der Arzneitests sollen späteren Betroffenen dienen, andererseits ist der sensible Patient schutzwürdig. Was ist wichtiger?
Dabrock: Bei solchen Güterkonflikten – und sie sind ein Indiz einer pluralen Gesellschaft, die die meisten wollen – hilft oft eine Prozeduralisierung innerhalb eines verantwortbaren Korridors. In unserem Fall liegt der zwischen "Verobjektivierung: nein!" und "grundsätzliche Achtung von Vorausverfügungen: ja!" Wenn man einige elementare Voraussetzungen gewährleistet –  ärztliche Aufklärung bei der Vorausverfügung, minimales Risiko der Studienversuche, aktueller Wille übertrumpft die Vorausverfügung, alle möglichen Versuche an Einwilligungsfähigen oder solchen, die selbst davon profitieren, sind vorher durchgeführt worden –, dann sehe ich eine solche Entscheidung für solche Vorausverfügungen innerhalb des erwähnten Verantwortungskorridors: Niemand ist gezwungen mitzumachen, der medizinische Fortschritt für Demenzkranke erhält aber in der Zukunft neue Möglichkeiten.

Der Vergleich mit dem Nationalsozialismus wurde gebracht: Schwerkranke als Versuchskaninchen zu missbrauchen, müsste hierzulande doch ein Tabu sein?
Dabrock: Die Geschichte legt uns eine hohe Sensibilität und Verantwortung auf. Die hier debattierte Frage – wohlgemerkt: Es geht nur um die mögliche Erlaubnis, bei klarem Verstand vorauszuverfügen, bei späterer Nichteinwilligungsfähigkeit sich an einer Demenzstudie zu beteiligen – mit Naziexperimenten zu vergleichen, ist völlig unangemessen. Sie stellt den an sich legitimen Wunsch, anderen zu helfen, auf eine Stufe mit Mörderansinnen.

Wie wichtig sind Ethikkommissionen und Kirchen in der Debatte?
Dabrock: Die Kirchen haben in diesem Fall – auch wenn ich ihre jetzige restriktive Position so nicht teilen würde – ihre Aufgabe, Politik kritisch zu begleiten, sehr aufmerksam wahrgenommen und damit die an sich notwendige Debatte angestoßen. Ethikkommissionen sind für die so wichtigen Arzneimittelstudien, ohne die wir keine neuen sicheren Medikamente bekommen, ein ganz wichtiges Vertrauensinstrumentarium.

Gerade angesichts der Skepsis gegenüber der möglichen Erlaubnis, die Beteiligung an Forschung, die einem selbst nicht nutzt, voraus zu verfügen, darf ihre Bedeutung nicht geschmälert werden. Die Gesetzesnovelle sieht vor, dass eine einheitliche Bundesbehörde das Votum der Ethikkommissionen zwar maßgeblich beachten, aber nicht mehr zwingend befolgen muss. Diese Änderung will mir gar nicht einleuchten.

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