Häusliche Gewalt: Darum können Frauen nicht einfach gehen

22.5.2021, 06:00 Uhr
Nicht immer geht es bei häuslicher Gewalt um körperliche Angriffe. Oft ist auch massive psychische Gewalt im Spiel.

© imago images/Panthermedia, NNZ Nicht immer geht es bei häuslicher Gewalt um körperliche Angriffe. Oft ist auch massive psychische Gewalt im Spiel.

Etwa jede vierte Frau, schätzt das Bundesfamilienministerium, wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Mehr als 7.000 Frauen haben 2019 Schutz in einem Frauenhaus gesucht. Manche von ihnen wurden über Jahre hinweg gedemütigt, isoliert und geschlagen. Wann immer darüber gesprochen wird, kommt fast unweigerlich die Frage: Warum ist sie denn nicht sofort gegangen?

„Wir haben bei häuslicher Gewalt eine sehr problematische und langwierige und daher oft lange nicht merkliche Verstrickung von verschiedenen Gewaltformen“, erklärt Sabine Böhm von der frauenBeratung nürnberg.

Jahrelange psychische Gewalt

Körperliche Gewalt tritt ihr zufolge meist erst viel später in einer Gewaltbeziehung auf. Vorher steht eine oft monate- oder sogar jahrelange Phase, in der Frauen durch psychische, soziale und ökonomische Gewalt eingeengt und verstrickt werden.

Oft steht am Anfang die Kontrolle. Er entscheidet, wie die Beziehung zu laufen hat, wofür sie Geld ausgeben kann, mit wem sie sich trifft. Hinzu kommt die Eifersucht. Was zuerst wie ein Ausdruck großer Liebe erscheint, wird zur Beklemmung. Er kann es nicht ertragen, wenn sie mit den Kollegen spricht, einen anderen Mann zu lange ansieht. Also versucht sie ihr Verhalten anzupassen, sie will ihn ja nicht grundlos provozieren.

Dann kommen die Demütigungen, die Abwertung ihrer Leistungen und Persönlichkeit, das Absprechen ihrer Wahrnehmung. Wenn sie von den Beleidigungen getroffen ist, ist sie überempfindlich oder bildet sich das nur ein. Wenn sie sich wehrt, vergiftet sie die Beziehung mit ständigem Drama, verletzt seine Gefühle mit ihren falschen Vorwürfen, betrügt ihn vielleicht sogar.

Eine völlig verzerrte Realität

Dazu kommt die soziale Isolation: Er hat keine Lust ihre Familie zu treffen, ihre Freunde sind nicht vertrauenswürdig und überhaupt hat sie viel zu wenig Zeit für ihn. So wird es für sie fast unmöglich, mit anderen über die Beziehung zu reden, zu erkennen, dass er sie in eine völlig verzerrte Realität von Verboten, Vorwürfen und Schuldzuweisungen drängt. Eine Welt, in der die Beziehung viel besser liefe, wenn sie sich nur richtig verhalten könnte.

„In der Regel ist das ein Zuckerbrot und Peitsche-Spiel“, erklärt Sabine Böhm. Am Anfang einer solchen Beziehung stehe häufig eine sehr intensive, leidenschaftliche Phase: Er zeigt sich sehr verliebt, will schnell zusammenziehen, und kann sich nur mit ihr eine Zukunft vorstellen.


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Von dieser Euphorie würden die Frauen oft lange zehren, während psychische Gewalt und Kontrolle langsam und zunächst unterschwellig zunehmen. „Der Satz, den wir am häufigsten hören, ist ‚Ich will, dass es wieder so wird wie am Anfang‘“, sagt die Soziologin Böhm.

Wie oft Frauen in ihrer Beziehung tatsächlich Opfer von psychischer Gewalt werden, wurde bislang wenig untersucht. In einer repräsentativen Studie beauftragt vom Familienministerium berichtete ein Drittel aller befragten Frauen von mindestens einer Verhaltensweise des Partners, die auf psychische Gewalt deutete.

Laut der Auswertung von Monika Schröttle, Soziologin an der Universität Erlangen-Nürnberg, und Nicole Ansorge waren dabei Formen extremer Eifersucht und die Kontrolle darüber, mit wem die Frau Kontakt hat, die häufigsten Anzeichen. Bei etwa einem Siebtel der Frauen kontrollierte der Partner zudem die Finanzen, oder schüchterte sie mit Beleidigungen, Demütigungen und aggressivem Verhalten ein.

Solche Verhaltensweisen hat wohl fast jeder schon einmal beobachtet: Der Freund einer Bekannten, der sie oft wegen ihres Aussehens und Kleidungsstils niedermacht. Oder der eine Partner, der die Freundin ständig anruft, um zu erfahren, wo genau sie ist. All das können Warnzeichen sein, sind es aber nicht immer.


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„Es gibt viele Beziehungen, die laufen beschissen, um das mal deutlich zu sagen“, meint Sabine Böhm. „Aber nicht alles davon ist Gewalt. Das zentrale Kriterium für eine Beziehung häuslicher Gewalt ist eine klare Machtungleichheit. Wenn eine Seite immer die Oberhand hat, und mit einem starken Machtwillen ganz unterschiedliche Strategien anwendet, um die andere Person unten zu halten.“

Aus einer solchen Beziehung zu entkommen, sagt sie, sei ein langer und harter Weg, der oft durch weitere Faktoren erschwert werde. Wer schon als Kind häusliche Gewalt miterlebt habe, sei besonders gefährdet, weil alles, was man über die Gestaltung von Beziehungen wisse, eben von der gewalttätigen Beziehung der Eltern komme. Aber auch die Gesellschaft spielt Böhm zufolge eine große Rolle: „Wir wissen, je patriarchalischer eine Gesellschaft ist, je weniger Frauen wert sind, je weniger weit die gesetzliche Gleichstellung ist, desto höher ist das Maß an häuslicher Gewalt gegen Frauen.“

Juristische Verfolgung mangelhaft

Ein besserer Schutz von Frauen durch die Gesellschaft ist daher nach Ansicht der Frauenberatung wichtig, um häusliche Gewalt zu vermindern. Dazu gehört auch die juristische Verfolgung. Im Vereinigten Königreich sind schwere Fälle von psychischer Gewalt, Kontrolle und Gaslighting (eine Form von Missbrauch, bei der das Opfer gezielt desorientiert und seine Wahrnehmung der Realität manipuliert wird) als Straftaten anerkannt.

In Deutschland dagegen ist die Verfolgung solcher Gewaltformen deutlich schwieriger. Möglich ist es, einen Täter wegen digitaler Gewalt anzuzeigen, wenn er Stalking-Apps auf dem Handy der Frau installiert, um sie zu kontrollieren. Auch Beleidigungen, Drohungen, oder das Vorenthalten des eigenen Geldes können verfolgt werden. Weitere Verbesserungen des Strafrechts wären sicherlich sinnvoll, meint Sabine Böhm.


Wenn Kinder Opfer von Familiengewalt werden


Viel wichtiger sei es aber, dass Frauen von der Polizei und Justiz ernst genommen würden, und häusliche Gewalt als eine konkrete Bedrohung anerkannt würde. In Nürnberg habe sich da viel getan: „Gerade von den Stabstellen und der Polizeiführung gibt es hier eine unglaubliche Sensibilität und Reflektiertheit und große Unterstützung“, erklärt Böhm. Sie wisse von Kolleginnen, dass es in anderen Kommunen nicht so gut laufe. „Das Problem ist aber, dass es im Moment noch sehr am einzelnen Streifenbeamten hängt, ob er das ernst nimmt oder nicht.“

Darüber hinaus könnten auch andere Außenstehende helfen. Die frauenBeratung nürnberg hat daher in Gostenhof das Projekt ‚Aufeinander achten‘ gestartet, mit dem insbesondere Nachbarn für häusliche Gewalt sensibilisiert werden sollen. Diese sollten auf Warnzeichen achten, beispielsweise auf eine demütigende Umgangsweise mit der Partnerin, auf eine depressiv gestimmte und ängstlich wirkende Frau, oder auf extrem aggressive oder extrem stille Kinder.

Keine Privatsache

Dabei gehe es nicht um eine Überwachung der Nachbarn, sagt Sabine Böhm, sondern darum, „dass man wahrnimmt, was los ist, der Betroffenen signalisiert, dass man ihre Situation sieht, und dass es Hilfsmöglichkeiten gibt.“

Ihrer Ansicht nach wird häusliche Gewalt bislang viel zu oft als Privatsache angesehen, in die man sich nicht einmischen solle. Noch immer würden viele Außenstehende der Frau die Verantwortung dafür zuschieben, die häusliche Gewalt zu beenden, indem sie geht. Dabei, meint Sabine Böhm, sei es genau umgekehrt: „Ich habe eigentlich noch nie die Frage gehört: Warum hört der Typ nicht auf, das mit ihr zu machen?“

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