Geniestreich in letzter Sekunde lässt Gechers jubeln

3.6.2018, 16:28 Uhr
Geniestreich in letzter Sekunde lässt Gechers jubeln

© Fotos: Thomas Welker

Schnell, schnell, schnell! Nur noch 30 Sekunden. Bange Blicke an der Seitenlinie. Schaffen wir das noch? Oder besiegt uns die Zeit, bevor wir den Gegner besiegen können? Quarterback Jerome Löffler bespricht noch kurz den Spielzug mit seinen Teamkollegen, dann gehen sie alle in Formation, zum wahrscheinlich letzten, zum wohl entscheidenden Male in dieser Partie.

Wenn ein American-Football-Team ein Körper wäre und die Spieler seine Organe, dann dürfte der Quarterback weder das Herz oder Gehirn, sondern das Nervensystem sein. Er ist nicht unbedingt der beste Einzelspieler. Aber ohne den Quarterback, der die anderen Organe vernetzt und steuert, läuft in der Offensive nichts. Ob ein Spielzug tatsächlich gelingt, hängt nicht nur von ihm ab. Ob er überhaupt gelingen kann, aber durchaus.

Löffler bekommt den Football in die Hände gechipt und strampelt etwa drei Schritte zurück. Zuvor hat es sein Team mehrmals vergeblich per Laufspiel versucht und sich dabei immer weiter nach hinten manövriert. Die Endzone, wo Löfflers Team hinkommen muss, um den Spielstand zu drehen, liegt jetzt fast auf der anderen Seite. Er checkt kurz seine Optionen ab, ganz weit hinten tut sich eine klitzekleine Lücke in der gegnerischen Defensive auf, dann realisiert er: Jetzt oder nie.

Geniestreich in letzter Sekunde lässt Gechers jubeln

Er entscheidet sich für das Jetzt und feuert den Ball quer über das Feld. Marcel Breitkopf, umzingelt von drei Verteidigern, empfängt den Pass und galoppiert, wie von einem Magneten angezogen, in Richtung Endzone. Draußen rennen die Spieler und Betreuer an der Seitenlinie mit ihm mit, als könnten sie so zusammen den Ball ins Ziel tragen. Sie schreien seine Beine förmlich an. Dann bricht Jubel aus. Touchdown. Die Hemhofen Gechers haben die Partie gewonnen.

Ein Hauch von US-Sport weht an diesem Samstagabend über das behagliche Hemhofen. Dort, wo normalerweise der TSV in der Kreisliga kickt, sind nun blaue Linien am grünen Rasen eingezeichnet. Auf den Fußballtoren sind zwei weiße Stangen gestülpt. Hemhofen Gechers gegen Schweinfurt Gladiators. Das erste Saisonspiel in der bayerischen Aufbauliga. Das erste Hemhofener American-Football-Spiel überhaupt. Wohl der einzige Ort dieser Welt, wo Hähne und Gladiatoren aufeinandertreffen. Und die Hähne auch noch als Sieger vom Platz gehen.

Erst legt er den Helm mit dem Hahn-Emblem ab, dann stülpt er das rot-weiße Trikot runter. Ein erleichtertes Grinsen kommt zum Vorschein. Erstmal eine Zigarette anzünden. Thomas Sinner ist umgeben von ungläubigen Gesichtern, die den Sieg feiern und sich gegenseitig Wasserduschen verpassen. Doch der Trainer selbst ist schon voll im Analyse-Modus. "In der ersten Hälfte haben wir uns um unseren Lohn gebracht", sagt Sinner. "Wir haben mehrere Möglichkeiten, in die Endzone zu kommen, nicht genutzt."

Aber auch der Coach weiß: Das ist Kritik auf hohem Niveau. "Die Schweinfurter trainieren schon seit 1,5 Jahren", sagt er. Bei Hemhofen seien hingegen 80 Prozent der Spieler erst neu zum Football gekommen. "Deshalb habe ich ihnen eingetrichtert, dass es nur über den Willen geht."

Unter die vielen neugierigen Blicke gesellen sich auch viele Zuschauer (es sind beachtliche 400), die zum ersten Mal eine American Football-Partie verfolgen. Der Regel-Dschungel lässt sich vor allem auf ein Wort herunterbrechen: Raumgewinn. Elf offensive gegen elf defensive Spieler. Die einen versuchen Raum zu erobern, die anderen wollen genau das verhindern.

Gelingen in vier Versuchen nicht mindestens zehn Yards, wechseln die beiden Teams. Doch wer den Sport nur mit Kampf und Gewalt assoziiert, der irrt. Nicht umsonst werden gerne Schach-Analogien bemüht. Es gibt schier unzählige Möglichkeiten, um Yards zu gewinnen. Der Rasen wird so zu dem Ort, auf dem die Kreativität zweier Trainerköpfe frontal aufeinanderprallt.

Wenn es vom Gegner Videos gebe, verrät Sinner, lasse er sich die zuschicken. Anschließend wird analysiert, was das Zeug hält. "Wir wollen die Spielzüge und Aufstellungen des Gegners aufdecken", sagt er. "Wir wollen den Schlüssel zum Erfolg finden."

Der Schlüssel zum 22:20-Erfolg der Hähne liegt diesmal an einem besonderen Kniff. Beiden Teams gelingen drei Touchdowns. Aber jedes Mal kann der Trainer entscheiden: Lässt er für einen zusätzlichen Punkt den Ball durch die Stangen kicken? Oder lässt er für zwei zusätzliche Punkte erneut in die Endzone werfen? Sicherheitsvariante oder Risikovariante? Sinner wählt das Risiko. Und gewinnt die Wette auf sein eigenes Team.

Er erinnert damit an den US-Coach Chip Kelly, der in seinen erfolgreicheren College-Zeiten mit einer ultraoffensiven Spielweise bekannt wurde und sein komplettes Coaching der Devise unterwarf: Viel Risiko ist wenig Risiko. Als ein Spieler ihn einmal vor einem Spielzug fragte, was denn jetzt der Plan sei, antwortete Kelly: "Punkte scoren – und was ist dein Plan?"

Ja, was ist der langfristige Plan der Hemhofener Gechers? "Für diese erste Saison bleiben wir bescheiden", sagt der Coach. Aber aus dem Wort Demut lässt sich auch das Wort Mut herauslesen. "Langfristig will ich mindestens in die Landesliga."

 

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