Behrens: Von der Identifikationsfigur zum Gesicht der FCN-Krise

27.7.2020, 05:56 Uhr
Vom Fan-Liebling zum Gesicht der FCN-Talfahrt: Kapitän Hanno Behrens.

© Sportfoto Zink / Daniel Marr Vom Fan-Liebling zum Gesicht der FCN-Talfahrt: Kapitän Hanno Behrens.

Gäbe es einen Sport, der dem 1. FC Nürnberg, dem fränkischen Liebes- und Leidensverein, als Sinnbild dienen könnte, dann wäre es das Surfen: Das Reiten einer Welle der Euphorie, immer in dem gerne verdrängten Wissen, dass die Kraft des Wassers im nächsten Moment umschwingen und zur Gefahr werden kann. Dass man den Überblick verliert und Chaos ausbricht. Besonders in Nürnberg scheint das kontinuierliche Auf und Ab, der stetige Wechsel zwischen Hoch und Tief ein Naturgesetz zu sein.

Wer kennt dieses FCN-Phänomen besser als Hobbysurfer Hanno Behrens: verlorene und gewonnene Relegationen, Abstiege und Aufstiege. In seinen mittlerweile fünf Jahren am Neuen Zabo stand in jeder Spielzeit ein Entscheidungsspiel an, immer folgte auf Euphorie die Ernüchterung und später auf Ernüchterung neue Euphorie. "In Nürnberg geht es sehr schnell in die eine, aber auch in die andere Richtung", analysierte der Kapitän einst. Der gebürtige Elmshorner selbst neigt, seinem nordischen Naturell geschuldet, generell nicht zum Überschwang. Vielleicht liegt gerade in jenen unterschiedlichen Charakteristika einer der Gründe, warum die Chemie zwischen dem Blondschopf und dem Club, seinem Club, über das vergangene halbe Jahrzehnt so stimmig war.


Hecking und der FCN: Eine Einigung, die nicht alle Seiten bestätigen


Die desaströse abgelaufene Spielzeit zehrte an jenem Verhältnis, der sonst stets positiv gestimmte, Optimismus versprühende Sunnyboy war zumeist nur noch ein Schatten seiner selbst. Überspielt wirkte er, physisch entkräftet und mental erschöpft, gescheitert an der Herausforderung, Verantwortung zu übernehmen. Nicht, dass er jene Aufgabe nicht angenommen hätte, im Gegenteil, er wirkte zu versteift darauf, sie auch in einer solch diffizilen Phase zu meistern. Überfordert mit dem Auftrag, die zahlreichen Neuzugänge zu integrieren, verlor der einstige FCN-Top-Torschütze (14 Saisontreffer in der Aufstiegssaison) zu Beginn der Spielzeit seine eigene Form.

Der notenschwächste Spieler der Relegation: der Kapitän

Im Bemühen, es in der Folge dennoch selbst zu richten und zu regeln, zu funktionieren und vorweg zu gehen, wurde der Spielführer von allen Seiten überholt. Engagiert war er, zählte auch in der vergangenen Spielzeit erneut zu den zehn laufstärksten Akteuren der 2. Bundesliga. Seine 366 Kilometer sammelte er aber oftmals zu übermütig, zu unbedacht, zu wenig effektiv. Bei Ballbesitz agierte er fahrig, fehlerbehaftet und verkrampft. Bezeichnend: In den beiden wohl richtungsweisendsten Partien seit Behrens‘ Wechsel an den Valznerweiher versagte der Kapitän. Keiner der zehn Kollegen, die in beiden Relegations-Partien in der unveränderten Startelf standen, schnitt nach kicker-Noten schlechter ab als der Kapitän (4,0).

Eine ausreichende Zensur erhielt Behrens auch von Seiten der NN-Redaktion und der User (4,3). Sicher, mit Blick auf das Engagement und den Einsatz ging der Kapitän aber in jedem Spiel als Vorbild voran und versuchte (wenn auch vergebens), sein taumelndes Team wieder auf Kurs zu bringen. Zudem darf auch der Wandel des internen Stellenwerts des zuvor lange Unantastbaren nicht außer Acht gelassen werden – in zweierlei Hinsicht.

Viel Herzblut und große Emotionen: Hanno Behrens und Enrico Valentini nach der Rettung in der Relegation.

Viel Herzblut und große Emotionen: Hanno Behrens und Enrico Valentini nach der Rettung in der Relegation. © Sportfoto Zink / Daniel Marr

Zum Einen musste Behrens am 25. August letzten Jahres im Heimspiel gegen Aufsteiger Osnabrück erstmals seit September 2015 zunächst auf der Bank Platz nehmen, in der Vorwoche wurde der Kapitän zur Halbzeit ausgewechselt. Freilich: Wenn die Leistung nicht stimmt, darf auch der sonst unumstrittene Spielführer nicht davor gefeit sein, frühzeitig den Platz verlassen zu müssen. Dass Trainer Damir Canadi nach einem derart schwachen Durchgang seines im Kollektiv vollends enttäuschenden Teams ursprünglich jeden vorzeitig zum Duschen hätte schicken können und die Wahl dennoch auf den ehemals sakrosankten Häuptling fiel, lässt tief blicken. Die öffentliche Debatte um den angezählten Führungsspieler war spätestens nach jener Entscheidung eröffnet und dürfte den Druck auf Behrens nicht reduziert haben. Die Unbeschwertheit war gleichwohl weg.

Behrens als Sechser: Kein Platz für Stärken

Zum Zweiten ist der Zusammenhang zwischen der Position, die Behrens bekleidete, und der Leistung, die er dabei abrief, nicht von der Hand zu weisen. Es ist kein Zufall, dass der Mittelfeldspieler in den vier frühherbstlichen Partien drei Tore erzielte, ein traumhaftes Assist verbuchte und somit insgesamt die persönlich beste - wenn auch kurze - Phase der vergangenen Saison erlebte. In den Duellen mit Hannover, St. Pauli, Aue und Regensburg setzte Coach Canadi seinen Musterprofi nicht auf die Doppelsechs vor eine Dreierkette, sondern ließ ihn in einem 4-3-3 beziehungsweise einem 4-1-4-1 als Achter auflaufen. Auf der offensiveren Position gelang es dem früheren Darmstädter seine Tiefenläufe, sein Gespür für Räume, sein Kopfballspiel und seine Torgefahr einzubringen – auch, weil er mit Lukas Jäger einen alleinigen Sechser hinter sich hatte, der die Bälle ablaufen konnte und seinem Vordermann somit ein Stück weit von defensiven Verpflichtungen entband. Die zwischenzeitlich aufleuchtende, romantische Erinnerung an den "guten alten Behrens" war nur von kurzer Dauer.

Agierte der 30-Jährige wie über weite Strecken der Saison direkt vor der Abwehr kamen jene Trümpfe kaum mehr zur Geltung, stattdessen offenbarten sich die eklatanten Schwächen: Zweikampfführung, limitierte Technik, mangelhafte Dynamik und resultierend zahlreiche Fehlpässe auf kurze Distanz sowie Stockfehler. Das Problem, das sich über die komplette Spielzeit durch die Reihen des FCN zieht, nämlich der Einsatz der Spieler auf Positionen, in denen eher die Schwächen als die Stärken zur Geltung kommen, machte also auch vor Behrens keinen Halt. Dass man für die Neuzugänge Dovedan und Geis Zeit brauchte, um die richtige Position in der richtigen Formation ausfindig zu machen, bleibt noch zu entschuldigen. Behrens' Qualitäten sind jedoch seit Jahren bekannt: Am wertvollsten war er für den Club stets in Spielen, in denen sich der unter Michael Köllner zum Achter, Zehner oder gar verkappten Stürmer umfunktionierte, gelernte Sechser in die Angriffsbemühungen seiner Mannschaft einschalten, in den Strafraum stoßen und die Tiefe suchen konnte. In der vergangenen Saison ließen die Defensivverpflichtungen keinen Offensivdrang zu und beraubten den Elmshorner damit einer seiner größten Stärken.


Geis und der Club: Was kann Nürnbergs Star-Transfer?


Zu verdanken hat Behrens die Umschulung seinem früheren Trainer: "Er hat mir gesagt, dass er immer seine Tore macht, wenn er weiter vorne spielt", erzählte Michael Köllner 2017 im Rahmen eines Testspiels in Schwabach, als sein Schützling einen Viererpack erzielte. Zuhörer und der Trainer selbst hielten es damals für einen Witz, sie schmunzelten. Ein Jahr später feierte der Club den Aufstieg in die Bundesliga. Top-Torschütze, Dauerbrenner, Gesicht des Erfolgs: Hanno Behrens.

Vereinslegenden der Neuzeit: Mintal, Pinola - und Behrens?

Spätestens nach der wohl besten Saison seines Lebens, gekrönt mit dem Aufstieg und belohnt mit seinem Bundesliga-Debüt im zarten Alter von 28 Jahren liebten die Fans den Kapitän – und er liebte den Club. "Es ist eine große Ehre, die Binde beim 1. FC Nürnberg zu tragen. Das kann man später auch mal seinen Kindern erzählen", gab der Spielführer in Assonanz zu Stuhlfauths legendärem und vor jedem Heimspiel gebetsmühlenartig verlesenen Zitat zu Protokoll. Dank Behrens schien der Ruhm, der Stolz, für diesen Verein und die Bewohner der Stadt Nürnberg spielen zu dürfen, ins Max-Morlock-Stadion zurückzukehren. Coach Köllner prognostizierte gar, er könne hier eine Ära prägen und eine Vereinslegende der Neuzeit werden. Da war sie dann wieder, die Euphorie und die Hochgefühle des erfolgreichen Wellenritts.

Mit 14 Treffern trug der Kapitän maßgeblich zum Aufstieg in die Bundesliga bei.

Mit 14 Treffern trug der Kapitän maßgeblich zum Aufstieg in die Bundesliga bei. © Sportfoto Zink / DaMa

Auch in der Abstiegssaison standen die Club-Fans hinter ihrem Verein und hinter ihrem Kapitän – auch weil sie realistisch einzuschätzen wussten, wozu das Team in der Bundesliga fähig ist. Der Tenor: Wer kämpft und alles gibt, darf auch verlieren. Die Ansprüche an den Altmeister änderten sich naturgemäß mit dem Abstieg. Eine desolate Saison degradierte den ehemaligen Fan-Liebling nicht nur zu einem unter vielen Verlierern, sondern personifizierte den Kapitän diesmal als Gesicht des Misserfolgs, als fleischgewordenes Ventil der (zurecht) frustrierten Fans. Jene Entwicklung zeigt, wie schnell im Leistungsfußball Kredite verspielt und Meriten aufgebraucht werden – in jeglicher Hinsicht. Freilich widerstrebt es dem Grundgedanken des Sports, frühere Lorbeeren als ewiges Argument für Anerkennung zu missbrauchen, andererseits ist jene Kritik - bei Weitem nicht unangemessen – aber dennoch zumindest im Ansatz bigott. Wie gesagt, wer kämpft, darf auch verlieren. Und wer alles gibt, der darf auch scheitern. Beides trifft auf Hanno Behrens, der in der Saison 2019/20 vieles versuchte und dem nur wenig gelingen wollte, zu.

Verbittert die Liebe zum Club?

Ja, der 30-Jährige hat schon viel erlebt beim 1. FC Nürnberg, die vergangene Saison dürfte dennoch auch persönlich – aufgrund seines Standings, der Kritik und den Morddrohungen an ihn und Kollegen Mühl - an ihm gezehrt haben. "Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber zumindest Respekt", erklärte die frühere Identifikationsfigur im Januar, von einer "emotionalen Distanz" war die Rede. Seine alte Liebe, die Lilien, verließ er 2015 trotz der Aussicht als Stammkraft Bundesliga spielen zu können. Der Grund: mangelnde Wertschätzung. Ob sich die Geschichte beim Club, bei dem Behrens bis 2021 unter Vertrag steht, wiederholen wird, zeigt sich in den kommenden Wochen.

Sicher ist, dass den 30-Jährigen noch immer eine tiefe Verbundenheit mit dem 1. FC Nürnberg eint. Das Verhältnis zwischen dem loyalen Sympathieträger und seinem Club ist anders, nicht mehr diese schöne Liebesgeschichte von einem fußballromantischen Märchen-Neuling in der Bundesliga bei einem Verein, den er zu alter Stärke führen kann, sondern von einem engagierten und zugleich limitierten Spieler, der wechselwirkend mit seinem FCN untergeht. Dass es schwer wird, wieder aufzutauchen und dann – um es wieder in Surfersprache auszudrücken – wieder aufs Board zu steigen, um es bei der nächsten Welle, in der nächsten Saison besser zu machen, steht außer Frage. Was Hoffnung macht? Die Erfahrung. Hinter jedem noch so rauen Meer kommt immer Strand, nach jeder Flut kommt wieder Ebbe. Wo lernt man das besser als beim FCN, wer weiß das besser als Hanno Behrens?

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