FCN-Youngster Latteier: Zwischen Mut und Übermut

16.2.2021, 05:54 Uhr
Tim Latteier ersetzte noch im ersten Durchgang Noel Knothe auf der Rechtsverteidigerposition.

© Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / Daniel Marr Tim Latteier ersetzte noch im ersten Durchgang Noel Knothe auf der Rechtsverteidigerposition.

"Mutig und aktiv" wollte der 1. FC Nürnberg, wie Trainer Robert Klauß im Sommer erklärte, in dieser Saison spielen – und dadurch erfolgreich sein. Gelingen wollte dies dem Club bisher nicht oft und zunehmend seltener. Eine der vielen Ursachen ist simpel zu erkennen und schwer zu beheben: Courage. Jene ist im Profifußball meist die Frucht des Selbstvertrauens. Die Ernte des Erfolgs, die oft zu dessen Verweilen einlädt. Statt fruchtreife Samenkörner als Anzeichen einer neuen Zeit zu ernten, tritt der Club derzeit eher auf Scherben der Vergangenheit: Mit 23 Punkten (und somit zwei Zählern weniger als in der Vorsaison) rangiert der ruhmreiche Altmeister auf Tabellenplatz 14.

Die "sorgenfreie Saison" ist nach nur einem Sieg in acht Spielen verwegene Träumerei, der erneute Abstiegskampf die bittere Realität. Hoffnung, ein Wort das ohnehin eine gewisse Ohnmacht impliziert, macht derzeit wenig - besonders nicht Aspekte sportlicher Natur. Maximal die Aussicht auf eine Rückkehr der Verletzten lässt bessere Zeiten ersinnen. Oder der couragierte Auftritt eines Youngsters.

Tim Latteiers Einwechslung am frühen Sonntagnachmittag zeugte nicht von Mut. Sie war - ohne seine Bewerbung in den Trainingseinheiten schmälern zu wollen - das Ergebnis einer Ausfallkette, die letzte noch halbwegs sinnvolle Lösung für die Baustelle auf der rechten Abwehrseite. Der Aushilfsrechtsverteidiger für den Aushilfsrechtsverteidiger.

Latteiers Auftritt indes zeugte von Mut. Zwar lieferte der 20-Jährige bei weitem kein perfektes Spiel (NZ-Note 4), er agierte in seinem dritten Pflichtspiel für die Profis aber beherzter und selbstbewusster als viele seiner Mannschaftskameraden. Zu Beginn präsentierte sich der Jungspund mitunter übermutig. Beispielsweise als er in seiner ersten Aktion nach einer Verlagerung den Ball klatschen und direkt in den Strafraum zum Doppelpass ziehen wollte, dabei aber zu schwach abgab und einen Ballverlust provozierte, der letztlich zu einem Konter führen sollte. Lukas Mühl musste gezwungenermaßen auf rechts ausweichen, um Latteiers Absenz zu kompensieren, und öffnete damit viel Raum in der Mitte. Daniel-Kofi Kyereh vergab letztlich eine der vielen durchaus aussichtsreichen Tormöglichkeiten der Gäste, bevor sie überhaupt zum Abschluss kamen. Oder Latteier verdribbelte sich in der eigenen Hälfte, als er an Paqarada vorbeikam, sich dann aber den Ball zu weit vorlegte.


Asymmetrie und Pressinglinie 1? Klauß-Erklärung sorgt für Unverständnis


Mit seinen defensiven Aufgaben schien der gelernte Offensivspieler zunächst ebenfalls überfordert, ließ bei einer Hereingabe von Guido Burgstaller seinen Gegenspieler sträflich außer Acht (23.) und vor einem Steckpass Kyereh den Platz. Und doch zählte der 20-Jährige, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, zu den Besten an diesem schlechten Sonntagnachmittag im Nürnberger Achteck. Zumindest sollte im weiteren Verlauf des Spiels nicht die lädierte, rechte Seite zum Problemflügel des ruhmreichen Altmeisters verkommen.

Nach seinen ersten Aktionen stabilisierte sich der offensive Mittelfeldspieler nämlich auf fremdem Terrain, aus Übermut wurde Mut. In der 40. Minute klärte er einen tiefen Pass auf Omar Marmoush per Grätsche, hielt den Ball im Spiel, zog das Tempo an, um den Gegner abzuschütteln und passte auf Mühl. Nur wenige Sekunden später erhielt er erneut das Leder, ließ Marmoush ins Leere grätschen, zog den Ball fein mit der Innenseite am Fuß von Rodrigo Zalazar vorbei und verlagerte auf den freistehenden Tim Handwerker. Eine Akkumulation dreier geglückter Aktionen, eine Seltenheit beim 1. FC Nürnberg dieser Tage. Besser als seine Kollegen, die nach einem gewonnen Zweikampf meist einen Fehlpass oder anderweitigen Ballverlust folgen lassen, ist Latteier vermutlich nicht. Aber er ist in gewisser Weise grün hinter den Ohren – im positiven Sinne unbelastet von der Vergangenheit, im negativen Sinne naiv.


Schöne Borkowski-Premiere in unschönen FCN-Zeiten


"Der Unwissende hat Mut, der Wissende hat Angst", schrieb der italienische Schriftsteller Alberto Moravia einst. Tatsächlich schien sich diese Aussage auf den 1. FC Nürnberg übertragen zu lassen. Ein Beispiel: Lukas Mühl und Asger Sörensen, die beide den Negativstrudel der vergangenen Saison am eigenen Leibe miterlebt hatten, vermieden gegen den FC St. Pauli auffällig häufig den Pass zu Johannes Geis und Tom Krauß. Der Grund: Die beiden Hamburger Stürmer Marmoush und Burgstaller stellten die Passwege zu, Zehner Kyereh hielt sich zwischen den beiden FCN-Sechsern auf. Drei Gäste-Akteure stellten vier Club-Spieler zu. Ein mutiger Spielaufbau der Innenverteidiger in Verbindung mit einem aktiveren Freilaufverhalten der beiden Mittelfeldmänner hätte das Pauli-Pressing verletzen können – Konjunktiv, denn es gelang dem Club nicht. Der Blog Millernton schrieb: "Gegen Mutlosigkeit kannst Du auch in Unterzahl erfolgreich pressen."

Braucht es also einen kompletten Austausch der vermeintlich emotional verbrauchten Routiniers mit jungen, unbekümmerten Talenten? Ein Blick in die Vereinshistorie, zurück auf die Oktober-Revolte im Jahr 1984, würde eine klare Antwort liefern: Ja. Wenn sie die Qualität haben. Denn die besonders in Krisenzeiten gerne geforderten jungen Spieler sind nicht dann die Lösung, wenn sie einfach nur jung sind. Sie sind eine Lösung, wenn sie gut sind. Und wenn der Trainer nicht nur den Mut aufbringt, einen Youngster ins kalte Wasser zu werfen, sondern auch das Vertrauen hat, dass sich sein Schützling freischwimmen wird.


Sehne und Zehe: FCN muss ohne Knothe und Sörensen auskommen


Latteier gelang dies am Sonntagnachmittag in Summe, wenn auch erst nach anfänglichen Problemen. Seine präzise Flanke fand in der 77. Minute mit Dennis Borkowski einen Abnehmer. Der Anschlusstreffer sorgte nicht nur für einen kurzen Hoffnungsschimmer des 1. FC Nürnberg, an diesem Tag doch noch einen Zähler in der Noris zu behalten, sondern auch für eine erste Eintragung des Jungspunds in die Scorerliste im Profibereich. Es ist vielleicht der schriftliche Beweis dafür, dass sich Courage manchmal auszeichnet. Und die Erkenntnis, dass Selbstvertrauen nicht das Ergebnis von Erfolg, sondern die Ursache dessen sein könnte.

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