Domspatzen-Skandal: Scharfe Kritik an Kardinal Müller

19.7.2017, 17:10 Uhr
Papst Franziskus (r.) begrüßt Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Dieser sieht sich im Domspatzen-Skandal nun heftiger Kritik ausgesetzt.

© Claudio Peri/ANSA/dpa Papst Franziskus (r.) begrüßt Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Dieser sieht sich im Domspatzen-Skandal nun heftiger Kritik ausgesetzt.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat dem früheren Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller vorgeworfen, eine umfassende Aufarbeitung der Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen versäumt zu haben. "Müller hat stets von Einzelfällen gesprochen, aber die strukturellen Versäumnisse nicht untersucht", sagte Rörig. "Es wäre den Betroffenen zu wünschen, dass er sich wenigstens jetzt für die verschleppte Aufarbeitung entschuldigen würde."

Die frühere Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann (SPD) zeigte sich von dem Ausmaß des Missbrauchs überrascht. Der für die Aufklärung der Missbrauchsfälle zuständige Rechtsanwalt Ulrich Weber hatte in Regensburg den Abschlussbericht einer zweijährigen Untersuchung vorgelegt. Daraus geht hervor, dass bei den Regensburger Domspatzen jahrzehntelang Schüler geschlagen und sexuell missbraucht wurden. Rund 500 Sänger wurden Opfer von körperlicher Gewalt, 67 waren von sexueller Gewalt betroffen.

"Der Aufarbeitungsprozess in Regensburg sollte jetzt Vorbild für den christlichen Bereich sein, aber auch für alle anderen Organisationen, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind", sagte Rörig. Er lobte zugleich das Regensburger Vier-Säulen-Konzept zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Dazu gehörten die Aufklärung wie durch den Abschlussbericht, aber auch Hilfen, Anerkennung und die wissenschaftliche Aufarbeitung.

"Brutaler Erziehungsstil"

Zugleich forderte Rörig höhere Mindeststrafen für sexuellen Missbrauch von Kindern. Der Mindeststrafrahmen von drei Monaten sei zu gering bemessen. Rörigs Vorgängerin im Amt des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann, sagte, es habe bei den Domspatzen über die Jahre hinweg alleine sehr viele Fälle von sexueller Gewalt gegeben, von Einzelfällen könne man nicht mehr sprechen.

In dem Chor habe ein "ziemlich brutaler Erziehungsstil" mit viel psychischer sowie sexueller Gewalt geherrscht: "Das ist nicht etwas, was so aus Versehen mal von einem passiert", betonte die ehemalige Familienministerin. Auch Bergmann kritisierte die schleppende Aufarbeitung: "Ich glaube der wirkliche Aufarbeitungs- oder Aufklärungswille war nicht so ausgeprägt."

Die Art und Weise, wie mit den Betroffenen umgegangen worden sei, zeige nicht, dass man sich ihnen wirklich "zuwenden wollte, auch ein Stück Anerkennung, Entschuldigung leisten wollte". Für sie sei das "immer wieder ein Argument dafür, dass Aufarbeitung und Aufklärung in diesen Fällen eigentlich von außen passieren muss".

Der für die Aufklärung zuständige Rechtsanwalt Weber hatte bei der Vorstellung des Abschlussberichts ebenfalls Vorwürfe gegen den heutigen Kardinal Müller erhoben, der die Aufarbeitung bei Bekanntwerden des Skandals 2010 in die Wege geleitet hatte. Die Aufarbeitung sei mit vielen Schwächen behaftet gewesen, etwa weil man nicht den Dialog mit Opfern gesucht habe. Eine klare Verantwortung für die strategischen, organisatorischen und kommunikativen Schwächen müsse deshalb Müller zugeschrieben werden.

Der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller sieht die katholische Kirche im Fall von Kindesmissbrauch schärfer kritisiert als andere Institutionen. "Es ist offensichtlich, dass die katholische Kirche bei dem Thema härter angegangen wird, dass Priester a priori verdächtigt werden", sagte der 69-Jährige vor wenigen Tagen - vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts in Regensburg. "Es gibt Geistliche - Gott sei es geklagt – die solche Verbrechen begangen haben", sagte Müller. "Aber deshalb kann man nicht die anderen, nur weil sie auch Priester sind, kollektiv verdächtigen. Prozentual gesehen ist das mit Blick auf die Gesamtzahl der Geistlichen in der Welt sogar weniger als bei vergleichbaren pädagogischen Berufsgruppen - was die Straftat natürlich in keinster Weise entschuldigt und das Leiden der Opfer mindert", sagte er.


Kommentar: Aufklärung gibt Opfern Würde zurück


Müller stand fünf Jahre der Glaubenskongregation im Vatikan vor, die auch für die Aufklärung von Missbrauchsfällen zuständig ist. Papst Franziskus hatte Müllers Amtszeit Anfang Juli überraschend nicht verlängert. Der ehemalige Regensburger Bischof wehrte sich gegen den Vorwurf, dass er bei der Glaubenskongregation die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen behindert hätte. "Die Kongregation hat trotz mancher Einmischungsversuche immer die Null-Toleranz-Linie vertreten."

Gegenüber katholischen Geistlichen gebe es wegen des Zölibats große Vorurteile, so Müller. "Da wird gedacht, wenn jemand freiwillig enthaltsam lebt, muss er irgendwo seine Gefühle loswerden. Selbst wenn das stimmen würde, würde ein normaler Mensch die Beziehung zu einer Frau suchen und nicht zu einem Kind."

Die Organisation "Wir sind Kirche" forderte eine weitergehende Aufklärung zu möglichen Gewaltfällen innerhalb von Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Dem Abschlussbericht müssten weitere Schritte im Bistum Regensburg und in anderen Bistümern folgen.

"Lange vertuscht"

Der Bericht mache deutlich, dass Gewalt lange unter dem Aspekt des Einzelfalles behandelt worden sei, ohne die systemischen Bedingungen zu berücksichtigen, die die Taten ermöglichten. "Auch durch Priester in der Seelsorge ausgeübte sexuelle Gewalt muss unter gleichen Bedingungen ausgewertet werden", teilte "Wir sind Kirche" mit. "Denn auch Ordinariate und kirchliche Hierarchien stellen geschlossene Systeme dar, die diese Form der Gewaltübergriffe ermöglicht und viel zu lange vertuscht haben."

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