Tagespflege: siebeneinhalb Stunden Zeit zum Durchatmen

5.9.2015, 09:48 Uhr
Tagespflege: siebeneinhalb Stunden Zeit zum Durchatmen

© Foto: Wilhelm

Hermann-Vogel-Pflegezentrum, Abenberger Straße, zweiter Stock: Links vom Aufzug ist ein Kindergarten, durch die Tür rechts geht es in die Tagespflege der Arbeiterwohlfahrt. Schon am Eingang hat deren Leiter David Kletke eine erste Botschaft: „Unsere Tür ist immer offen. Hier wird niemand eingesperrt.“

Der kleine Rundgang durch die 170 Quadratmeter große Abteilung führt zunächst ins rustikale Wohnzimmer. Eine große braune Schrankwand, weiche gemütliche Sessel, ein großer schwarzer Fernseher, alte Schallplatten. Der Stil der sechziger Jahre. Doch beim Besuch an diesem Vormittag ist das Wohnzimmer leer.

Die Senioren sitzen gegenüber — in der geräumigen Wohnküche am großen ovalen Tisch. Einige unterhalten sich, andere wirken eher unbeteiligt, die Stimmung ist gelöst.

„Die Wohnküche ist das Herz unserer Einrichtung“, sagt David Kletke. „Hier wird gemeinsam gegessen und soweit möglich auch gemeinsam gekocht.“

Im dritten Raum befindet sich die „Werkecke“ mit Schraubenziehern, Sägen und Bohrern, daneben steht ein Kicker. Hinten schließt sich noch ein kleines Zimmer mit zwei Pflegebetten an. „Die sind Vorschrift, aber wir benötigen sie so gut wie nie“, erklärt Kletke. Ob er mit den Räumlichkeiten zufrieden ist? „Ja, sehr“, sagt der Krankenpfleger mit gerontopsychiatrischer Zusatzausbildung.

An der Wand im Flur hängt eine kleine Galerie mit Bildern der Seniorinnen und Senioren. Keine Fotos, sondern mit wenigen Strichen gezeichnete Portraits. „Die hab’ ich selbst gemacht“, sagt Kletke. Um Kunst geht es ihm dabei nicht. „Die Bilder lösen Reaktionen aus. Das ist was zum Schmunzeln.“

Angstfreie Atmosphäre

Und genau darum geht es in der Tagespflege: um Anregungen in einer schönen Stimmung. „Wir versuchen, unseren Gästen eine gute Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich angstfrei aufhalten können und weder über- noch unterfordert werden“, erklärt David Kletke. „Deshalb sieht es bei uns auch weniger nach Klinik aus, vielmehr wie in einer Wohnung“, ergänzt er.

Tatsächlich ist die Tagespflege für die Senioren eine Art Zweitwohnung. Hier verbringen vorwiegend Demenzkranke, aber auch Patienten nach Schlaganfällen oder mit Parkinson je nach Wunsch einen bis zu alle fünf Wochentage.

Eine solche Einrichtung gibt es in Schwabach nur bei der Awo. Jede Gruppe hat 12 Plätze. Aktuell betreut die Awo 26 Patienten, derzeit gibt es wieder freie Plätze. Die Betreuung ist von 8 bis 15.30 Uhr möglich.

Für die Angehörigen hat das zwei große Vorteile: „Zunächst haben sie siebeneinhalb Stunden frei und damit Zeit, auch mal durchzuschnaufen“, erläutert Kletke. „Tagespflege ist aber kein Abschieben. Im Gegenteil: Die Angehörigen versuchen mit unserer Hilfe, das Pflegeheim zu umgehen oder zumindest hinauszuschieben. Hier haben die Patienten Kontakte, kommen unter Menschen und vermeiden so soziale Isolation. Und abends, nachts und an den Wochenenden leben die Demenzkranken ja weiter in ihrer gewohnten Umgebung daheim.“

Von einem auf den anderen Tag

„Ohne die Tagespflege hätten wir es nicht geschafft, dass meine Schwiegermutter so lange daheim wohnen konnte“, berichtet Andrea B. (Name von der Redaktion geändert.)

Bis 2009 war das Leben in Ordnung. Die Schwiegermutter lebte zusammen mit ihrem langjährigen Lebensgefährten auf einem Bauernhof in einem Dorf bei Schwabach. „Sie war damals schon 85, aber sie fuhr noch gut Auto und kümmerte sich um den Garten. Über Rückenschmerzen hat sie schon geklagt, aber ansonsten war sie noch fit. “, blickt Andrea B. zurück. Dann kam der Schlaganfall. „Und von einem auf den anderen Tag hat sich das Leben komplett verändert.“

Dabei hatte sie sich zunächst gut erholt. Sie konnte sich mit dem Rollator bewegen, selbst kochen und vor allem: Sie konnte noch reden. Doch die Schlaganfälle zwei und drei änderten das. „Ab da durfte man sie nicht mehr alleine lassen.“

„Total überfordert gefühlt“

Der Lebenspartner ihrer Mutter, dessen Tochter, Andrea B. selbst und ihr Mann teilten sich die Betreuung. Täglich rund vier Stunden kümmerte sich Andrea B. um ihre Schwiegermutter. Eine extreme Dauerbelastung. „Ich habe mich total überfordert gefühlt.“ Um Kraft für die Pflege zu haben, gab sie sogar ihre Arbeit auf.

Und Hilfe? Morgens und abends kam eine Schwester vom ambulanten Dienst. Aber gegen die Tagespflege sträubte sich der Lebensgefährte. „Er hatte eine Engelsgeduld und sagte: Das schaffen wir alleine. Wir brauchen niemanden.“ Eine Haltung, die keineswegs selten ist. „Wir hatten einen richtigen Kampf, sie in die Tagespflege zu geben.“

Fünfeinhalb Jahre war die Schwiegermutter bei der Awo. „Sie hat sich hier immer wohl gefühlt. Und wir hatten von Anfang an ein gutes Gefühl. Dieser soziale Kontakt war wichtig.“

Doch über die Jahre baute sie immer weiter ab. Langsam, aber unaufhaltsam. Körperlich und geistig. „Am schlimmsten für uns ist, dass sie kaum mehr reden kann. Dass du keine Antwort bekommst. Und kein Lächeln. Sie hat ihre Mimik verloren. Das Gesicht ist maskenhaft geworden.“

Als im Mai der Lebensgefährte nach schwerer Krankheit starb, blieb nun doch nur noch der Weg ins Heim. Vollpflege daheim ist nicht leistbar. Die täglichen Besuche sind dafür intensiver. Schließlich kann sie sich ganz der Schwiegermutter widmen, muss nicht mehr für sie kochen und putzen.

Götz George statt Till Schweiger

Das Bild von Demenz wird auch von Erfolgsfilmen wie Till Schweigers „Honig im Kopf“ mit Didi Hallervorden als Patienten geprägt. „Das ist halt eine Kömodie. Mit der Wirklichkeit hat das fast nichts zu tun“, findet Andrea B. David Kletke ärgert sich sogar über eine solche „Verharmlosung, weil Demenzkranke eben nicht alle rührend kauzig sind“. Realistischer sei da schon „Mein Vater“ mit Götz George: „Der zeigt die Wirklichkeit knallhart.“

David Kletkes Rat ist daher eindeutig: „So früh wie möglich Hilfe suchen.“ Andrea B. bekräftigt das: „Am besten, wenn die Sprache noch da ist.“

Awo Tagespflege: Telefon (0 91 22) 9 34 14 40. E-Mail: www.tagespflege@awo-roth-schwabach.de. Internet: www.awo-roth-schwabach.de

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