Leinwand-Drama

Packende Landschaft, packender Stoff: Kinothriller "Anatomie eines Falls" über eine kaputte Ehe

1.11.2023, 18:55 Uhr
Da lebt er noch: Swann Arlaud (l.) als Vincent und Sandra Hüller als Sandra.

© Carole Bethuel Da lebt er noch: Swann Arlaud (l.) als Vincent und Sandra Hüller als Sandra.

Im vergangenen Mai hat die französische Regisseurin Justine Triet mit "Anatomie eines Falls" die Goldene Palme bei den renommierten Filmfestspielen von Cannes gewonnen. Der Erfolg speist sich aus mehreren Quellen: einer komplexen Geschichte, die Beziehungsdrama und Prozessthriller miteinander verwebt, fabelhaften Darstellern und philosophischem Tiefgang.

Schauplatz des Films sind die französischen Alpen oberhalb von Grenoble. Im Mittelpunkt stehen Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis). Justine Triet lässt von Anfang an keine Illusionen über das Zusammenleben zu: Die Ehe ist von Zweisamkeitsharmonie weit entfernt.

Rap und Reparatur

Während der im Dachstuhl seines Hauses handwerklich aktive Samuel mit "PIMP" des Rappers 50 Cent (als Instrumentalversion in Endlosschleife) einen ohrenbetäubenden Lärm entfacht, will seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, ein Stockwerk tiefer mit einer attraktiven jungen Doktorandin über Literatur und Leben, Wahrheit und Fiktion reden. Der Lärm macht eine verständliche Konversation unmöglich und erstickt Sandras signalstarke Flirtversuche im Keim.

Auf den aufregenden Einstieg folgt ein Schock. Samuel liegt tot in einer Blutlache im Schnee vor dem Haus. Unfall, Selbstmord oder Mord? Das entscheidet sich vor Gericht, wo sich Sandra mithilfe des ihr zugeneigten Anwalts Vincent (Swann Arlaud) gegen die aggressive Brillanz des Staatsanwalts (Antoine Reinartz) behaupten muss. Simon Beaufils’ Kamera beobachtet alles, was einen guten Prozessfilm ausmacht: den bisweilen komödienhaft inszenierten Aufmarsch der Experten, Kreuzverhör und Indizien-Analyse.

Schmerzlich intensiv

Ebenso den hitzigen Austausch von Argumenten und die mögliche (oder unmögliche) Feststellung von Schuld. Als Zeuge tritt auch der Sohn des Ehepaars auf, der elfjährige Daniel (schmerzlich intensiv: Milo Machado Graner). Er ist seit einem Unfall sehbehindert und durch den Dauerkonflikt der Eltern psychisch traumatisiert.

In Rückblenden werden Szenen einer kaputten Ehe rekonstruiert. Ganz in der Tradition des Theaterstücks "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" von Edward Albee findet das Ganze seinen Höhepunkt in einem Streit, in dem Sandra und Samuel sich gleichsam bei lebendigem Leib gegenseitig die Haut vom Körper reißen.

Hüller und Theis gehen an die Grenzen des Darstellbaren und zeigen einen Triumph der Schauspielkunst. Hüller hält als Sandra die besseren Karten in der Hand. Sie erscheint intellektuell überlegen und beherrschter als der impulsive Samuel. Immer wieder zieht sie sich jedoch in sich selbst zurück, zeigt der Welt eine spröde-abweisende Seite. Das beeinflusst auch ihre Sympathiewerte vor Gericht. Als Autorin beutet diese Frau skrupellos Details aus dem Familienleben für ihre Romane aus. Sogar ein Manuskript ihres Mannes verwandelt sie in Material für ein Buch. Doch ist sie schuldig, eine Mörderin?

Mehrere Ebenen

Die Schwierigkeit, zum Kern der Wahrheit vorzudringen, behandelt der Film auf mehreren Ebenen. Zum einen in Person von Daniel, dessen scheinbar schlüssige Aussage angesichts seiner Sehbehinderung Zweifel nährt. Das Thema wird überdies in gleich drei Sprachen verhandelt: Sandra steht als Deutsche in Frankreich vor Gericht, wo sie sich mit Englisch besser auszudrücken weiß: "I did not kill him".

Die "Anatomie eines Falls" stößt allein schon sprachlich an ihre Grenzen. Nach zweieinhalb Stunden hat der Film ein detailreiches Bild gezeichnet, das sich mit Faszination betrachten lässt - aber keine eindeutige Botschaft sendet. Das Urteil bleibt dem Publikum überlassen.

In diesen Kinos läuft der Film.

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