Verletzte Seelen: Astrid Franks Jugendbuch über Mobbing

26.8.2016, 14:24 Uhr
Verletzte Seelen: Astrid Franks Jugendbuch über Mobbing

© Foto: Axel Schulten

Gleich zu Beginn weiß der Leser, dass Anna tot ist. 19 Monate nach ihrem 13. Geburtstag, an dem ihr der Vater ein Tagebuch schenkte – "für deine Geheimnisse" –, stirbt sie bei einem Reitunfall. Wie es zu dem tragischen Ereignis kam, ob es wirklich ein Unfall war, das schildert Astrid Frank bis zum Schluss spannend und bewegend aus drei verschiedenen Perspektiven – aus dem Erleben der Tagebuchschreiberin Anna, aus dem ihres besten Schulfreundes Anton und aus der Sicht Simons, des verzweifelten Vaters, der nach dem Tod seiner Tochter auf Vergeltung sinnt.

Der Wechsel zwischen den Ebenen und die unverstellte Sprache sorgen für Tempo und Alltagsnähe. In den Tagebucheinträgen Annas, anfangs ein unbeschwertes Mädchen und stolze Besitzerin ihres geliebten Pferdes Elrond, erlebt man quasi in Echtzeit die Selbstaufgabe eines Menschen, der ohne ersichtlichen Grund – offenbar allein befördert durch eine neue Mitschülerin – zur Außenseiterin wird.

Auch ihre beste Freundin begegnet ihr bald mit offener Feindseligkeit. Warum diese Manu, mit der Anna vom ersten Schultag an verbunden war wie "siamesische Zwillinge", sich gegen sie wendet, lässt die Autorin offen und macht damit deutlich: Für die subtilen Mechanismen des Mobbings gibt es meist kein konkretes Motiv. Anna gilt bald als arrogant und unnahbar, als reiche Zicke, die die Ferien mit ihrem verwitweten Vater auf Mauritius verbringt.

Anton, selbst Spottobjekt seiner Mitschüler, aber psychisch stabiler und nicht nur heimlich verliebt in Anna, erlebt man als klugen, sensiblen Beobachter der Machtspiele und Eifersüchteleien in seiner Klasse. Anders als Simon, der Annas Tagebuch nach ihrem Tod gelesen hat, ist Anton jedoch auf der Suche nach Erklärungen: Was ist tatsächlich in Anna vorgegangen, was haben die offensiven Gehässigkeiten in ihr ausgelöst und was genau geschah an jenem Unglückstag?

Astrid Frank, selbst Mutter eines Sohnes, der bereits mit vier Jahren im Kindergarten gemobbt wurde, erweist sich als Erzählerin mit großem Einfühlungsvermögen für die emotional bald völlig aus der Bahn geratene Anna. Ihre ratlose Empörung über das Verhalten der anderen weicht mehr und mehr dem Gefühl, dass sie selbst die Schuld daran trägt und mit ihr etwas nicht stimmt. Auch für den grüblerischen Anton findet Frank den richtigen Ton.

Etwas stereotyp hingegen werden die Erwachsenen charakterisiert: Die Klassenlehrerin, die – aus Ignoranz oder Überforderung – nicht sehen will, was mit Anna passiert, sich sogar gegen sie stellt, gleicht eher einer bösen Lehrerkarikatur. Kaum nachvollziehbar ist auch das Verhalten des Vaters. Anna ist die einzige, die Simon wirklich nahesteht. Er liebt seine Tochter über alles, ist fürsorglich um sie bemüht und bekommt – weil er sich nach dem Tod seiner Frau noch mehr in die Arbeit vergraben hat als zuvor – doch nicht mit, wie Anna psychisch vor die Hunde geht, abmagert, sich die Haut blutig schrubbt. Glaubhaft wirkt das nicht, auch wenn Anna, nachdem sie einmal vergeblich das Gespräch mit ihm gesucht hat, fortan meint, ihn vor ihrem Kummer schützen zu müssen.

Dennoch gelingt es Frank auf eindringliche Weise, Mobbing als einen gruppendynamischen Prozess mit all den verheerenden, selbstzerstörischen Folgen für die Betroffenen darzustellen. Ihr Buch ist ein Appell an den Leser, nicht wegzuschauen, wenn einem Menschen Unrecht geschieht. Denn einen einzigen Schuldigen gibt es in solchen Fällen nicht.

Astrid Frank: Unsichtbare Wunden. Roman. Verlag Urachhaus, Stuttgart. 286 Seiten, 15,90 Euro.

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