Der Mentor der Nation: Altkanzler Helmut Schmidt ist tot

10.11.2015, 18:00 Uhr
Helmut Schmidt ist eine der prägendsten Persönlichkeiten Nachkriegsdeutschlands. Jetzt ist er tot.

© dpa Helmut Schmidt ist eine der prägendsten Persönlichkeiten Nachkriegsdeutschlands. Jetzt ist er tot.

Bis zuletzt hatte sein Wort Gewicht. Er stand so über den Dingen, dass er auf jedem Podium der Republik seine geliebten Mentholzigaretten rauchen durfte. Und bis zuletzt machte Helmut Schmidt aus seiner Unzufriedenheit über die heutige Politik keinen Hehl. "Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben", schrieb er in seinem letzten Buch "Was ich noch sagen wollte". "Der Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken, hat seither erheblich zugenommen."

Im kollektiven Gedächtnis vieler Landsleute war der SPD-Politiker eine Idealbesetzung als Kanzler - er scheute auch nicht den Konflikt mit seiner Partei, wenn es dem Land diente. Als «Mentor der Nation» bezeichnete ihn sein langjähriger Weggefährte, der Journalist Theo Sommer. Am Dienstag starb Schmidt im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hamburg.

Mit ihm geht eine der prägenden Figuren der Bundesrepublik, die die Lehren aus der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen versuchte. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung. Den Hamburgern ist die Besonnenheit unvergesslich, mit der Schmidt in seiner Heimatstadt die Folgen der Flutkatastrophe von 1962 beseitigte. Andere erinnern sich an die Entschlossenheit, mit der er sein Land durch die Stürme nach den Ölpreisschocks steuerte. Für viele bleibt aber das Bild des «Mannes von Mogadischu», der den RAF-Terroristen die Stirn bot.

Tod von Ehefrau Loki zeichnete den Politiker

Und da war das Bild der Seite an Seite rauchenden Eheleute Schmidt. 68 Jahre waren sie verheiratet. "Loki war der Mensch in meinem Leben, der mir am wichtigsten war", sagte er. Sie starb im Herbst 2010, bei der Trauerfeier im Hamburger Michel war Schmidt von Trauer schwer gezeichnet, er trug beide Eheringe an der rechten Hand. 2012 bekannte er sich zu seiner neuen Freundin Ruth Loah, die seit Jahrzehnten zu Schmidts Vertrauten gehörte und ohne die er - wie Schmidt sagte - den Verlust von Loki nicht überlebt hätte. Für Aufsehen sorgte er Anfang 2015 mit dem Bekenntnis eines Seitensprungs in der Ehe mit Loki Ende der 60er Jahre. Ein Mal habe es etwas gegeben, "was ein Außenstehender eine Krise nennen könnte. Ich hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau", so Schmidt.

Er und Loki hatten in den 70er Jahren im Zuge des Terrors der Roten Armee Fraktion schriftlich hinterlegen lassen, dass sie sich im Falle einer Entführung nicht gegen inhaftierte Terroristen austauschen lassen wollen. So verfuhr Schmidt auch beim in Köln gekidnappten Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer, der ermordet wurde. Schleyers Tod lastete zeitlebens schwer auf ihm.

Die achteinhalbjährige Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 verlief durch äußere Umstände aber eher glanzlos. Es ging weniger um ganz große Weichenstellungen wie bei Willy Brandt und seiner Ostpolitik, Schmidt prägte keine Ära - dafür wurde er später als Altkanzler und Einmischer umso mehr verehrt. Zur Bilanz des "Machers" gehören allerdings auch Versäumnisse. So konnte er wenig mit der aufkommenden Ökologiebewegung anfangen. Er wurde so zum Geburtshelfer der Grünen.

"Ich war weiß Gott kein Nazi."

Der «von Geburt und aus Gesinnung» überzeugte Hanseat wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek geboren. Er besuchte die reformpädagogische Lichtwark-Schule, wo er 1929 seine spätere Frau, Hannelore "Loki" Glaser kennenlernte. Seine Eltern drängte er in der NS-Zeit, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen, was sie abblockten. Auf die Frage nach dem Warum erwiderte die Mutter: "Weil Du einen jüdischen Großvater hast." Mit Blick auf seine spätere Zeit als Wehrmachtssoldat betont Schmidt: "Ich war weiß Gott kein Nazi."

Dass die Nationalsozialisten verrückt seien, sei ihm 1937 klar geworden, als sie von ihm verehrte Expressionisten als entartete Kunst einstuften. Er wollte aus Deutschland weg, klopfte bei Shell in Hamburg an, um einen Job in Holländisch-Indien zu bekommen. Daraus wurde nichts, auch nicht aus einem Architektur-Studium. 1942 heiratete er Loki, die sich später in Deutschland als Botanikerin und Naturschützerin einen Namen machte. Der erste Sohn starb mit acht Monaten an einer Hirnhautentzündung. Schmidt war zu der Zeit an der Front. Der Feldpostbrief mit der Todesnachricht ging verloren. "Erst aus einem späteren Brief zog ich die Schlussfolgerung, dass der Junge gestorben sein muss. Es war ein schrecklicher Moment", berichtete Schmidt in seinem Buch "Was ich noch sagen wollte", das im März 2015 erschien.

Nach kurzer Gefangenschaft studierte Schmidt Volkswirtschaft und Staatswissenschaft. 1946 trat er der SPD bei, Tochter Susanne wurde 1947 geboren, 1953 wurde er in den Bundestag gewählt. Kurz nach der Rückkehr nach Hamburg als Innensenator bewies er bei der Sturmflut im Februar 1962 erstmals sein Talent als souveräner Krisenmanager, der sich in diesem Notfall auch über Vorschriften hinwegsetzte.

Wahl zum Kanzler am 16. Mai 1974

Danach verlief die Karriere stetig nach oben. 1965 stellvertretender SPD-Fraktionschef in Bonn, ein Jahr später - nach Bildung der Großen Koalition - Fraktionschef. Im ersten sozial-liberalen Kabinett wurde er Verteidigungsminister. 1972 übernahm er das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers. Der "SPD-Kronprinz" rechnete gar nicht mehr damit, den Sprung ins Kanzleramt zu schaffen. Als Willy Brandt 1974 wegen der Affäre um DDR-Spion Günter Guillaume zurücktrat, kam doch noch die Chance. Am 16. Mai 1974 wurde Schmidt mit den Stimmen von SPD und FDP zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt.

Der Mentor der Nation: Altkanzler Helmut Schmidt ist tot

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Tiefe Trauer in Deutschland

Polit-Deutschland ist betroffen. Zahlreiche SPD-Parteikollegen meldeten sich schon zu Wort. Unter ihnen auch Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly. "Der Tod Helmut Schmidts ist ein großer Verlust für unser Gemeinwesen, für die Politik, für Deutschland", sagte Maly. "Ich habe einen großen Respekt vor seiner grandiosen Lebensleistung."

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