"Nu a Mäßla!": So feierte Nürnberg 1990 den WM-Titel

8.7.2015, 07:39 Uhr
Jubel auf Nürnbergs Straßen und in Rom: Nach dem dritten WM-Triumph einer deutschen Mannschaft kannte der Jubel keine Grenzen mehr.

© Montage: S. Schmid Jubel auf Nürnbergs Straßen und in Rom: Nach dem dritten WM-Triumph einer deutschen Mannschaft kannte der Jubel keine Grenzen mehr.

Italienische Nacht in Nürnberg: Das WM-Endspiel in Rom ist noch nicht abgepfiffen, da tanzen die ersten Menschen siegestrunken auf den Straßen. Da und dort sammeln sich freudestrahlende Chauffeure in ihren tollen Kisten zur Rundfahrt durch die Straßen der Stadt. Gegröle allerorten. Hupkonzerte dröhnen. Bölllerschüsse knallen. Leuchtraketen steigen hoch. Silvester im Juli. Auch wer jetzt um 21.45 Uhr noch nichts davon gehört hat, bleibt von der Botschaft nicht verschont: Deutschland ist Weltmeister.

Die Autoschlangen am Frauentorgraben werden immer länger. Der erste Stau. Auffahrunfall am Ring. Nicht jeder Lenker beherrscht sein Auto in der ersten Euphorie. Schwer ist's ohnedies, wenn in und auf dem Fahrzeug vier bis acht Personen toben. "Deutschland, Deutschland"-Rufe aus PS-starken Gefährten. Wie Trophäen werden die Sektflaschen emporgehalten. Prost. Die Straßenverkehrsordnung hat wohl für die meisten im Augenblick keine Bedeutung.

"Ich bin sicher, daß es bei einem Sieg der deutschen Elf nach dem Spiel in der Stadt hochhergehen wird", sagt Helmut Kestler, der Führungsbeamte in der Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums Mittelfranken am Jakobsplatz gegen 20 Uhr: "Das hat schon das Halbfinale am vergangenen Mittwoch gezeigt." Auf den großen Endspielabend haben sich die Ordnungshüter jedenfalls gut vorbereitet. Der Einsatzzug des Präsidiums ist verstärkt worden, auf den einzelnen Wachen tun mehr Beamte Dienst als sonst. Immerhin ist es ja möglich, daß die überschäumende Freude der Sportfreunde in Aggressivität umschlägt. "Wir zeigen Präsenz, doch hat jede Streifenbesatzung die Anweisung, sich zurückzuhalten. Eingegriffen wird nur bei großen Verkehrsbehinderungen oder Sachbeschädigungen", lautet die Order.

22.30 Uhr: Am Ring bricht der Verkehr zusammen. Die Konvois im Stillstand. Das tut der Begeisterung keinen Abbruch. Die Massen suchen die Begegnung auf der Straße. Einigkeit macht stark. Die Nation hat gewonnen. Tausende, später zehntausende ziehen durch die Fußgängerzonen. "Als der Elfer drin war, da gab's in der Kneipe kein Halten mehr", erzählt Klaus Heffler aus Schwabach. Auf nach Nürnberg lautet die Devise. Doch bis das lang ersehnte Tor endlich gefallen ist, zittern die Fußballfans allüberall vor den Fernsehapparaten. Das Stadtteilzentrum Desi wird zur Sauna. Vor der Großleinwand schwitzen die Sportbegeisterten. Aktionen beider Mannschaften finden Beifall. Am Eingang steht das Motto: "Rote Karte für Deutschtümelei." Der Spruch ist an diesem Abend in den wenigsten Gast- und Wohnstuben wohl gelitten.

Schwarz-rot-goldene Flaggen hängen aus den Fenstern der Mietskasernen. Deutsche Jungmänner legen das symbolträchtige Stöffchen über die schmächtigen Schultern. Die Fahnen können nicht groß genug sein, wenn sie aus den Autos gereckt werden. Spezialisten im Military-Look halten sich an der alten Reichskriegsflagge fest.

Begehrtes T-Shirt

Wohl dem, der jetzt ein Original-Trikot besitzt. Die dem Anlaß entsprechend passend gekleidete Runde im Patrizier-Garten fiebert bei jedem Spielzug mit. "Geh' zou, bring ma nu a Mäßla", schallt's dem Ober entgegen. Der darf sich nur im Watschelgang bewegen, damit keiner der Gäste etwas verpaßt. Der siebenjährige Michael ist mit seinen Eltern da. Ausnahmsweise darf er länger aufbleiben. Auch er steckt im echten T-Shirt mit den schwar-rot-goldenen Streifen. "Ich hab's gestern erst gekauft", erzählt der Junge stolz und fügt an: "Eine Nummer müßt' halt hinten drauf sein."

Immun gegen das Fußball-Fieber sind auch die Polizisten in der Einsatzzentrale nicht. Die fünf Beamten, die dort Nachtschicht schieben, haben sich aus dem Besprechungsraum den Farbfernseher geholt. Er trohnt auf dem Tisch zwischen den Monitoren, die die Bilder von Nürnbergs Verkehrsknotenpunkten zeigen. So recht gestattet ist das nicht. "Aber beim WM-Endspiel darf man ruhig mal die Augen zudrücken", meint Kestler. Einen Steinwurf entfernt vom Präsidium liegt die Feuerwache 3. Fünfzehn Mann haben Bereitschaft - und gucken in die Röhre. Doch alle wissen: "Wenn während des Spiels ein Alarm eingeht, ist das erfahrungsgemäß meist ein Einsatz der schwereren Art. Die Leute sind so gefsselt, daß sie einen Brand ziemlich spät registrieren", berichtet einer. Die Wehrmänner haben Glück. Es bleibt ruhig.

So still wie auch in der Kneipe mitten im Biergarten, als der Siegtreffer immer ferner rückt. Wie eine Erlösung wirkt der verwandelte Elfmeter. Im Nu werden die Tische und Stühle zur gefährlichen Tanzfläche. Umarmungen zuhauf. An der Fürther Straße kann ein Italiener den nun einsetzenden Jubel nicht verstehen. Ein Geschenk, so befindet er, sei der Strafstoß gewesen. Der wahre Weltmeister sei die italienische Mannschaft. Von den grölend vorbeiziehenden Burschen erntet er nur mitleidige Blicke. Ein Mädchen ruft den Passanten voller Enthusiasmus zu: "Deutschland ist Weltmeister. Man muß sich freuen." Wirklich?

Der 8. Juli war auch im Jahr 2014 ein guter Tag für den deutschen Fußball. Im WM-Halbfinale demontierte die DFB-Elf Gastgeber Brasilien und gewann 7:1 - und Nürnberg stand Kopf.

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