Russland-Experten vor WM-Beginn: "Putin ein Ideal für viele"

14.6.2018, 06:00 Uhr
Russland-Experten Julia Glathe und Martin Brand schlagen im NN-Interview die Brücke zwischen WM und Weltpolitik: "Wenn man Kritik daran übt, dass Russland eine WM ausrichtet, sollte sich die Kritik eher an Akteure richten, auf die wir wirklich Einfluss haben. Und das ist der Deutsche Fußball-Bund."

© Fadi Keblawi Russland-Experten Julia Glathe und Martin Brand schlagen im NN-Interview die Brücke zwischen WM und Weltpolitik: "Wenn man Kritik daran übt, dass Russland eine WM ausrichtet, sollte sich die Kritik eher an Akteure richten, auf die wir wirklich Einfluss haben. Und das ist der Deutsche Fußball-Bund."

NNEhe wir uns dem allgemeinen Geschimpfe anschließen: Warum ist es eine sehr gute Idee, diese Weltmeisterschaft nach Russland zu vergeben?

Martin Brand: Eigentlich hat Franz Beckenbauer die perfekte Antwort.

Wie auf jede Frage eigentlich.

Brand: Franz Beckenbauer hat für die WM-Vergabe nach Russland gestimmt und ist später Botschafter von Gazprom geworden. Ob es da einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht. Aber Spaß beiseite: Aus meiner Sicht ist es gar nicht so abwegig, die WM nach Russland zu vergeben, weil — anders als Katar, Gastgeber in vier Jahren — Russland eine 120-jährige Fußballtradition hat. Der russische Fußball ist ja durchaus erfolgreich, bei Europameisterschaften haben sie immer wieder gut abgeschnitten. Russland ist eine Fußballnation.

Julia Glathe: Die Frage zielt ja auch ein bisschen auf die Debatte über Russland als autokratischen Staat.

Einen Staat voller Rassisten, Sexisten und gedopter Sportler. Das ist zumindest der Eindruck, der mitunter in Deutschland entsteht.

Glathe: Das alles, aber vor allem geht es eben um Putins Autokratie, die Krim-Annektion. Also fragen sich viele: Wie kann man an so ein Land die WM vergeben?

Exakt.

Glathe: Ich finde das schwierig, das so klar einzuteilen. Aus westlicher Perspektive klingt das immer so, als würde es den liberalen, demokratischen Westen geben, in dem alles ganz toll ist, und dann gibt es die bösen Autokratien, und die müsste man am besten aus diesem total sauberen, total demokratischen Fußballgeschäft raushalten. Das stimmt so nicht ganz. Der Fußball, die Verbände selbst weisen insofern autokratische Züge auf, als sie die ökonomischen Interessen einiger weniger Akteure in den Vordergrund stellen, anstatt Transparenz und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Ohne das autokratische System in Russland klein reden zu wollen, glaube ich, dass das ein zu einfacher Blick ist: Hier das Gute, da das Böse.

Die WM und Olympiade beweisen: Russland unter Putin ist in der Lage, die größten Sport-Ereignisse der Welt zu veranstalten.

Die WM und Olympiade beweisen: Russland unter Putin ist in der Lage, die größten Sport-Ereignisse der Welt zu veranstalten. © dpa

Das Gute in Russland

Also gibt es das Gute in Russland.

Glathe: Natürlich. Es gibt nicht den guten Westen und das böse Russland. Das ist eine Illusion. Man sieht ja auch an Entwicklungen in Deutschland, dass das ein globales Phänomen ist, die Re-Autokratisierung, die Re-Nationalisierung — das sieht man in ganz Europa. Man sollte den Fußball nutzen, um demokratische Positionen zu stärken, als eine Brücke zwischen zivilgesellschaftlichen Aktionen innerhalb westlicher Staaten und Russlands. Dafür ist die WM schon auch ein wichtiges Moment.

Brand: Ich würde noch ein wenig Zynismus ins Spiel bringen: Wer vergibt denn die WM? Eine private Organisation, die sich Fifa nennt, die von zig Korruptionsskandalen in den letzten Jahren erschüttert wurde. Die zynische Frage wäre: In welches demokratische Land sollte man denn bitteschön eine Fußball-WM vergeben? Wer tut sich so etwas an, dass eine Organisation wie die Fifa kommt, im Prinzip ihre Anforderungen durchsetzt wie Stadionbau, Anzahl der zu bauenden Hotels? Um es ins Seriöse zu drehen: Wenn man Kritik daran übt, dass Russland eine WM ausrichtet, sollte sich die Kritik eher an Akteure richten, auf die wir wirklich Einfluss haben. Und das ist der Deutsche Fußball-Bund.

Sie haben die Brücke genannt, wer betritt die von russischer Seite aus?

Glathe: Ich habe kürzlich Vertreter einer LGBT-Gruppierung (LGBT ist eine englische Abkürzung für Lesben, Schwule, Transgender und Bisexuelle, die Red.) kennengelernt. Die wollen das Ereignis nutzen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Ich glaube, dass das sehr wichtig ist, dass russische Gruppen solcherart überhaupt im Bewusstsein auftauchen.

Eine WM hilft den liberalen Gruppen und Kräften in Russland?

Brand: Ich glaube, man muss das Brückenbauen tiefer ansetzen. Es hilft schon, dass viele Menschen nach Russland kommen und nicht nur die russische Kultur kennenlernen, sondern in Kontakt mit ganz normalen Russen kommen. Und die sehen dann wiederum, dass der Westen gar nicht so schrecklich ist und sich gegen sie verschworen hat — was in den letzten Jahren vor allem in den Nachrichten die gängige Erzählung ist über den Westen: Das notwendige Abschotten Russlands gegen einen Feind aus dem westlichen Ausland. Also ein Brückenbau eher zwischen den Menschen als zwischen gesellschaftlichen Gruppen.

Glathe: Ich will auch nicht so tun, als würde es jetzt eine WM geben, dann vernetzen sich die, zum Beispiel, LGBT-Gruppen, und danach wird alles schön. Das auf keinen Fall. Das sind Graswurzelbewegungen, wo erst Impulse gesetzt werden. Ich würde es aber nicht unterschätzen, wie wichtig es ist, so ein Bewusstsein zu teilen. Dass man eben nicht isoliert ist.

Fußballspielende Frauen sind "Kampflesben"

Die sehen, dass sie nicht alleine in der Welt sind. Aber sind sie in Russland alleine mit ihren, nennen wir es: liberalen Ansichten?

Glathe: Es ist sicher eine marginalisierte Gruppe, aber ich würde nicht sagen, dass das, wofür sie sich einsetzen, im deutschen Fußball selbstverständlich ist. Es hat sich hier noch nie ein Profispieler als schwul geoutet während seiner Karriere. Wie krass ist das? Die fußballspielenden Frauen hingegen gelten alle als Kampflesben und müssen sich schon für den Playboy ausziehen, um zu zeigen: Wir können hübsch aussehen. Dieses heteronormative Bild ist im westlichen Fußball auch sehr stark vertreten. Gesamtgesellschaftlich ist der Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben hier also auch marginalisiert. In Russland wird das natürlich durch das Gesetz gegen homosexuelle Propaganda gesetzlich verfolgt — klar, dass ist nochmal eine andere Nummer.

Wie stellt man es an, dass man sich in ein solches Land verliebt?

Brand: Ich weiß, wie ich mich in Russland verliebt habe. Ich hatte Russisch in der Schule, viel russische Literatur gelesen, Schüleraustausch nach Russland, Zivildienst dort gemacht. Seitdem ist da dieses Interesse, ich habe viele Freunde dort. So kam die Liebe zu Russland, auch wenn es eine ist, an der man manchmal verzweifelt.

Wie ist das dann, wenn man deutsches Fernsehen sieht, Zeitungen liest — und fast immer nur auf dieses nicht sonderlich nette Russlandbild stößt? Ist das alles nur überzeichnet? Und ist das in Russland ähnlich? Herrschen da zu oft Missverständnisse?

Brand: Wir waren beide Redakteure der Russlandanalysen, einem Analyseblatt über Russland. Wir haben da eine Chronik geschrieben: Was passiert in Russland jeden Tag? Mein Eindruck war, dass die wirklich wichtigen Dinge sich sehr ausführlich in den deutschen Medien wiederfinden. Man wird durchaus gut informiert über das, was in Russland passiert.

Es gibt Schwierigkeiten in Russland

Sehen die Russen das genauso, sehen die ihr Land richtig abgebildet?

Brand: Das ist schwierig. Ich will ja auch gar nicht sagen, dass wir damit Russland richtig erfassen in seiner ganzen Komplexität, mit all den Schwierigkeiten, die es in diesem Land gibt. Ein Beispiel sind für mich immer die 1990er Jahre, über die in Deutschland immer hinweggegangen wird. Die als ein Fenster der Demokratisierung in Russland wahrgenommen werden, bis dann Putin kam. Aber in dieser Zeit ist die Lebenserwartung russischer Männer um vier Jahre gesunken. Ein Einbruch. Dahinter stehen hunderttausende von Menschen, die viel zu früh gestorben sind aufgrund der politischen Wirren und dem folgenden Alkoholismus. Das sitzt sehr tief. Dass wir dafür manchmal das Gespür verlieren bei aktuellen Ereignissen, die wir sehen und nicht nachvollziehen können, warum bestimmte Dinge aus unserer Sicht schieflaufen. Aus russischer Sicht sind die vielleicht gar nicht schlecht.

Lebt da der Ost-West-Konflikt weiter? Und damit der Blick des guten Westens auf den dummen Osten?

Glathe: Was mich an der Berichterstattung über Russland oft stört, ist, dass es oft aus einer Perspektive des Westens, aus einer eurozentrierten Perspektive passiert. Es wirkt so, als würde es den liberalen Westen geben und dann gibt es noch Russland, das einfach nicht fähig ist, das tolle Ideal zu erreichen. Man muss überlegen: Welche Phänomene, die gerade in Russland auftreten, sind gerade auch in West-Europa Mode? Diese ganze Autokratisierung — Putin ist ja ein Ideal für viele, nicht nur für die AfD, sondern auch für Konservative. Weil er Probleme auf eine autoritäre Art löst.

Brand: Journalismus muss ja auch Kritik äußern. Es geht aber auch um das Verstehen und da könnten wir aus westlicher Sicht viel mehr leisten. Beispiel: Die Auseinandersetzung mit der Nato. In Russland wird gesagt, die Nato ist eine Bedrohung. Das sollte man erst einmal ernst nehmen. Russland fühlt sich bedroht. Ich würde erst einmal davon ausgehen: Okay, das ist so, auch wenn wir der Meinung sind, die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und hat keine aggressiven Absichten.

Glathe: Der zweite Schritt ist dann aber auch nachzusehen, wie so etwas genutzt wird, um ein autoritäres Regime aufrechtzuhalten. Was Putin daraus macht, ist ja nicht Befreiungskampf, sondern Unterdrückung des eigenen Volkes.

Abschottung nach außen bringt innere Stärke

Um westliche Tendenzen zu unterdrücken.

Brand: Um sich abzuschotten und das eigene Regime zu stärken. Es ist paradox, aber man muss nur auf 2014 blicken, als dieser Krieg in der Ukraine begann, als Russland die Krim annektierte. Bis dahin fielen die Zustimmungswerte für Putin — und auf einmal schossen sie in die Höhe. Er hat also etwas geschafft, mit dieser Abschottung nach außen, nämlich im Inneren zur Stärke zurück zu finden. Das heißt aber nicht, dass im tiefsten Inneren nicht doch die Angst und das Misstrauen vor der Nato herrscht. Diese Zusammenhänge gehen manchmal unter in der Berichterstattung.

Wie sehr nützt Putin die WM?

Glathe: Wenn Russland sportlich erfolgreich wäre, könnte es etwas bringen. Ansonsten bringt ihm nur die Kritik an der Vergabe etwas, die Boykott-Aufrufe. Damit kann er das Bild verstärken: Der Westen unterdrückt uns. Das ist aber keine langfristige Methode, um das System zu stärken.

Brand: Es nutzt ihm, weil es der nächste Beweis ist, dass Russland unter Putin in der Lage ist, die größten Sport-Ereignisse der Welt zu veranstalten. Die Olympischen Spiele in Sotschi waren innenpolitisch hoch angesehen. Wenn die WM einigermaßen ohne Zwischenfälle verläuft, dann nutzt das Putin in seiner Rolle als Macher, als Staatslenker durchaus.

Glathe: Aber nicht nur in dieser Rolle, sondern auch um zu zeigen: Wir können locker mit dem Westen mithalten, wir sind ein Teil davon.

Will man das denn sein?

Glathe: Natürlich, das ist ein ganz wichtiges Moment. Man will zeigen, dass man ein modernes Land ist. Sonst würde man auf die Angriffe, die auf das Demokratiedefizit hinweisen, nicht so sensibel reagieren. Man will kein Alternativmodell propagieren.

Brand: Die Abgrenzung ist eher eine rhetorische. Man folgt in vielen Bereichen den westlichen Trends, in der Sozialpolitik, in der Migrationspolitik. Da wird vieles aus dem Westen übernommen oder angepasst an russische Verhältnisse.

Russland-Experten vor WM-Beginn:

Glathe: Das ist oft ja gar nicht anders möglich, weil Russland in dieses globale kapitalistische System eingebettet ist — und zwar in einer peripheren Position. Man möchte raus aus dieser unterlegenen Position, die einem vom Westen zugeschrieben wird. Dafür braucht es auch die Abwertung von scheinbar westlichen Momenten wie zum Beispiel Toleranz gegenüber Homosexualität und eine zu starke Demokratisierung. Man will zeigen, dass man auch normativ eine starke Stellung hat.

Gender-Frage ist wichtig

Ist Russland ein testosterongesteuertes Land, ein Macho?

Brand: Ich glaube, dass diese Gender-Frage wichtig ist. In den 1990er Jahren waren es die Männer, die ihren Status in der Gesellschaft verloren haben. Die haben sich als Ernährer betrachtet, und dann sind sie entlassen worden aus diesen Mono-Betrieben.

Glathe: Aber die Frauen noch eher.

Brand: Ja, aber den Frauen ist es gelungen, die Familie weiter zu ernähren, sie haben Handel betrieben.

Glathe: Jetzt sind wir bei Sozialpolitik.

Da wollte ich hin. Ich frage mich bloß gerade, wie wir von hier aus noch zum Hooliganismus kommen.

Brand: Da müssen wir überlegen. In den 1990er Jahren war es tatsächlich der russische Mann, der unter den veränderten Lebensumständen viel stärker gelitten hat. Die Lebenserwartung der Männer ist viel stärker eingebrochen als die der Frauen. Das hatte ganz viel damit zu tun, dass die Männer dem Alkohol verfallen sind, ihren Status in der Familie verloren haben.

Ist das ein russisches Phänomen? Das wäre in jedem anderen Land wahrscheinlich genau so.

Brand: Ja, aber ich glaube, dass die russischen Männer noch immer auf der Suche sind nach ihrer Rolle in der Gesellschaft.

Das ist jetzt vielleicht eine billige Überleitung, aber diese Suche drückt sich auch dadurch aus, dass sie in Hooligan-Gruppen marodierend durch andere Länder fahren wie vor zwei Jahren während der EM.

Glathe: Es ist eine neue Maskulinitäts-Konstruktion. In den 90ern war Männlichkeit dieses Starksein, Saufen, grob gegenüber Frauen sein. Das hat sich gewandelt. Das, was wir in Frankreich gesehen haben, ist Zeugnis einer neuen Maskulinität. Also dass man sich von Drogen, Alkohol und Zigaretten abgrenzt, von diesem versifften, groben Russen, den man von Jelzin kennt, der besoffen in den Medien war. Stattdessen will man den starken, kontrollierten Mann.

Cooles Ereignis - allerdings nur begrenzt

Wird das eine freundliche WM?

Glathe: Für die Gruppen, die gesellschaftliche Macht besitzen, wird das ein cooles Ereignis. Für marginalisierte Gruppen nicht. Für Migrantinnen zum Beispiel, oder für die, die man aufgrund ihrer Hautfarbe für Migranten hält, für die wird das kein Spaß. Und auch bei den Studenten, die in Ekaterinburg und Samara während der WM aus ihren Wohnheimen ausquartiert werden, damit da die Sicherheitskräfte schlafen können, wird sich die Begeisterung in Grenzen halten, wenn sie die WM nur in ihren Heimatsorten vom Fernseher aus verfolgen können.

Also: Gute Idee, die WM nach Russland zu geben — aber nicht für alle?

Brand: Ich glaube, dass es eine gute Idee ist. Trotz der politischen Probleme. Meine Hoffnung ist groß, dass der Blick auf Russland ein anderer wird.

Glathe: Ich finde es ist eine logische Entscheidung aus Sicht der Fifa. Ob es eine gute Entscheidung ist für die Menschen? Man sollte die WM als Chance nutzen, aber ein Weltbefriedungsprojekt wird sie eher nicht.

10 Kommentare