Tödlicher Unfall beschäftigt die Bürger weiter

23.6.2014, 06:00 Uhr
Zehn Tage nachdem eine 18-Jährige beim Inlineskaten an der Großen Straße totgefahren wurde, hat eine Facebook-Initiative am Samstag eine Mahnwache an der Unfallstelle veranstaltet.

© Roland Fengler Zehn Tage nachdem eine 18-Jährige beim Inlineskaten an der Großen Straße totgefahren wurde, hat eine Facebook-Initiative am Samstag eine Mahnwache an der Unfallstelle veranstaltet.

So funktioniert wohl „Trauer 2.0“. Acht Leute, die einander erst seit einer Woche kennen, betreuen einen Altar. Eileen bringt bündelweise Blumen in Eimern. Seit Tagen kauft sie Rosen, Gerbera und Lilien in dem Supermarkt, in dem sie arbeitet. Michèle mit dem Baby besorgt Getränke. Das Internetportal Foodsharing steuert Essbares bei. Michèles Mann trägt ein Kondolenzbuch herum, fast nie setzt er sich auf die Decken. Alexandra holt täglich Grablichter in Großpackungen. „Maries Licht soll brennen“, sagt sie und kämpft gegen die Tränen, „koste es, was es wolle.“

Facebook hat diese Leute zusammengebracht. Sie verstehen sich als „Bürgerinitiative für Marie“. Marie W., die beim Inlineskaten überfahren wurde, kam aus Dortmund. Niemand hier kannte sie. Warum trotzdem so viel Aktion? Warum diese vierzehnstündige „Mahnwache“ am Samstag? „Aus Wut und Betroffenheit“, sagt Patrick Preißler, der Initiator. Zwei der Frauen stellen sich selbst als Hinterbliebene von Unfallopfern vor. Preißler hat nach einem Studienabschluss gerade freie Zeit. Der 33-Jährige schläft wenig, weil er ständig diesen Bordstein bewacht, aber er will keinen Abstand finden. Auf seinem Sweatshirt steht „Schutzengel“, ein Filmtitel. „Es geht uns nicht um Geld, nicht um Schuldzuweisungen, nicht um uns.“ Es gehe darum, was aus dem Tod des unschuldigen Mädchens zu lernen sei.

Manche Menschen glauben ihm das nicht. Preißler muss bitterböse Kommentare von seiner Seite löschen. Am Samstagnachmittag beschimpft ein Skater die Gruppe an der Unfallstelle. Der Streit ums korrekte Gedenken ist aber die Ausnahme. Einige Hundert Besucher bekunden im Lauf des Tages ihre Solidarität. Jemand hat Schokoriegel ins Blumenmeer gelegt. Und einen Zettel, auf dem steht: „Unbegreiflich! Unverzeihlich!“ Paare umarmen sich. Eine Frau weint. Sie ist überzeugt: Sie muss Marie W. und ihrer Schwester im Mercado einige Tage vor dem Unglück Inlineskates verkauft haben. Sie machten Scherze an der Kasse, erzählt sie. „Ich habe noch gesagt: Seid vorsichtig am Dutzendteich!“

Die Gespräche hier verlaufen in Einigkeit: Autos sind der Stadt zu heilig, Strafen für Raser in Deutschland zu gering. „Ich hab’ dem Maly schon vor Jahren gesagt, was für ein Saustall hier herrscht“, entrüstet sich ein Rentner auf dem Fahrrad. Anwohner hätten seit langem Angst vor tödlichen Unfällen geäußert, sagt Roland Kettner vom Bürgerforum Dutzendteich. Inkonsequent sei der Verkehr auf dieser Rennstrecke geregelt gewesen, „eine Lumperei“. „Ich skate hier seit 15 Jahren und habe schon so viele gefährliche Szenen gesehen“, bekräftigt Luna Mittig. Sie macht den ersten Eintrag ins Trauerbuch. „Eine Stadt entschuldigt sich und schämt sich für dieses Verbrechen.“ Die vom Rathaus frisch eingeführten Verkehrsberuhigungsmaßnahmen wertet die Frau wie alle Passanten als löblich, aber unzureichend. „Über Tempo 30 lachen die Idioten nur.“ Man sollte die Straße ganz sperren und nur für Veranstaltungen öffnen, findet auch das Ehepaar Zenobia und Krzysztof Fijolek. „Das Gelände gehört der Freizeit und den jungen Menschen. Es hätte auch unsere Kinder treffen können.“

Wie um die Empörten zu bestätigen, misslingt die Sperrung des Nordteils der Großen Straße am zweiten Tag sogleich. Die Schranke steht offen, warum auch immer. Autos fahren durch, manche sehr flott. Die Aktivisten jagen ihnen zornig hinterher. Auf dem Volksfestplatz sehen sie am Abend wieder einen Fahrer „driften“, wie das Übersteuern mit Staubwolken heißt. Sie melden es der Polizei.

Auch die Eltern H. sind gekommen. Stundenlang stehen sie vor der Kulisse, die sie zu trösten scheint. Ihr Sohn Dominic kam im August 2003 in der Nähe ums Leben: überfahren bei einem illegalen Rennen an der Zeppelintribüne. Der Fahrer bekam eine Bewährungsstrafe. Es sei gut, dass die Verkehrsplaner auch jetzt schnell gehandelt hätten, sagt Dominics Vater. „Aber es ist halt zu wenig.“

Das hört Frank Jülich, Leiter des Verkehrsplanungsamts, der sich wie Bürgermeister Christian Vogel privat der Mahnwache anschließt. Jülich schildert H. die städtische Sicht. Der meistgefährdete Bereich der Straße sei nun geschützt. Die Maßnahmen hätten nicht früher erfolgen können, weil es keine Beschwerden über Unfälle oder organisierte Raserszenen gegeben habe. „Natürlich steht und fällt jetzt alles mit konsequenter Kontrolle.“ Außerdem brauche es eine „gesellschaftliche Debatte über mehr Rücksicht im Straßenverkehr“, sagt Jülich. Das Unglück von Marie W. sei für ihn „unfassbar“.

Patrick Preißler will die Gedenkzeremonie nun langsam auslaufen lassen. Das Buch, die Figürchen und RIP-Herzchen schickt er der Familie W. nach Dortmund. „Es war ja alles für die Familie.“ Von Maries Tod fühlt er sich weiterhin beauftragt. Bei den Veranstaltern des Norisringrennens nächste Woche will die Bürgerinitiative erreichen, dass die Fahrer Schweigeminuten einlegen.

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