Die Freiheitskämpferin

30.6.2020, 12:00 Uhr
Die Freiheitskämpferin

Die Menschen, der Dialekt, die Stadt. Als die junge Brigitte Gall nach Nürnberg kommt, will sie gleich wieder weg. Über die Südstadt mit Blick auf die Heizkessel fährt sie damals ins Zentrum und wünscht sich sofort zurück an den romantischen Bodensee, wo sie aufgewachsen ist. Für Freunde ist sie auch Jahre später "’s Schwäbele", obwohl sie längst als Fränkin durchgeht. Auch wenn Brigitte Gall sich selbst so nie bezeichnen würde. "Ich bin eher eine Weltbürgerin, so habe ich mich schon immer gefühlt."

Was können Geflüchtete für ihre Lage?

In Nürnberg fühlt sie sich erst so richtig wohl, als sie die Stadt noch einmal verlässt und nach Baden-Württemberg zurückkehrt. Doch schnell vermisst sie Familie und Freunde. "Ich habe gemerkt: Hier bin ich daheim. Aber ich hatte mir auch bewiesen, dass ich weggehen kann, wenn ich will." Freiheit ist für Brigitte Gall, die streng erzogen wurde und in eine Klosterschule ging, sehr wichtig. Auch die Freiheit, die Wahl zu haben.

Als 2015 Tausende Menschen nach Nürnberg kommen, um frei leben zu können, will die heute 73-Jährige mit dem rot gefärbten Haaren und den stahlblauen Augen helfen. Auch um gegen die Ungerechtigkeit in der Welt anzukämpfen. Die nämlich hat Brigitte Gall noch nie vertragen. Für Menschen, die es schlechter erwischt haben, steht sie ein. "Was können die Geflüchteten dafür, dass sie in Ländern geboren wurden, in denen sie unterdrückt werden, in denen Krieg und Chaos herrscht?" In denen sie nicht frei sein können.

Erst Malstunden, dann Kleiderausgabe

Brigitte Gall will helfen, sie organisiert über das Rote Kreuz eine Malstunde für Kinder, "denn da kenne ich mich aus". Wenn die Grafikdesignerin zur Malstunde in den Kulturladen Zeltnerschloss kommt, ist sie sofort umzingelt von Mädchen und Jungen, mit denen sie nicht kommunizieren kann — außer über die Kunst. "Das ist beim Malen ja nicht schwer, da versteht man sich."


Hier finden sie alle Ehrenwert-Preisträger.


Zwei Jahre trifft sie sich mit den Sechs- bis Neunjährigen, erlebt die Entwicklung der jungen Geflüchteten.Brigitte Gall aber will noch mehr tun. Die Kleiderausgabe benötigt Unterstützung. Die 73-Jährige packt an, sucht manchmal für ganze Familien nach passenden Klamotten. "Das war nicht immer leicht, manchmal war die Qualität der Ware schlecht. Das war für die stolzen Menschen nicht einfach, die abgetragene Kleidung zu tragen."

"Hier muss ich mehr tun"

Die Freiheitskämpferin

© Brigitte Gall

An einem dieser Tage trifft sie Sham und ihren Papa. Vater und Tochter sind aus der syrischen Hauptstadt Damaskus geflohen, um Krieg und Kriegsdienst zu entkommen. In die kleine Sham ist Brigitte Gall sehr schnell verschossen. Sie nimmt sich Zeit, um für die Fünfjährige passende Schuhe zu finden. Mit dem Vater plauscht sie nebenbei.

Als die Zwei sie wieder verlassen, ist die Grafikdesignerin sicher: "Hier muss ich mehr tun." Sie sucht die beiden auf, obwohl sie nicht in die Räume der Notunterkunft darf, "aber ich kann schon sehr energisch sein". Sie lernt die ganze Großfamilie kennen, also auch den Bruder des Vaters und dessen Familie. Nur Shams einjährige Schwester und ihre Mutter sind noch in Damaskus, sie konnten die Reise nicht mitmachen. Wie sehr Sham darunter leidet, merkt Brigitte Gall bei den vielen Besuchen, die sie der Familie abstattet.

Kindergarten, Anwalt, Wohnung: Gall hilft

Heute ist die Familie vereint, zu der längst auch die Grafikdesignerin zählt. Stolz zeigt sie Bilder von Sham, die in Brigitte Galls Küche Kuchen backt und auf der Terrasse malt — ganz wie ihre Zweit-Mama. Ihr hat Sham viel zu verdanken. Der ganzen Familie bringt sie bei, wie das Leben in Deutschland funktioniert. Anfangs treffen sie sich für Ausflüge oder zum Essen "und reden dabei mit Händen und Füßen", erinnert sich die Ehrenamtliche. Als die Wahl-Nürnbergerin von den Problemen der Familie erfährt, hält sie es nicht aus und nimmt das Telefon in die Hand.

Unterm Jahr findet sie für Sham einen Platz in einem Kindergarten. Die Leiterin der Einrichtung ist von Brigitte Galls Hartnäckigkeit beeindruckt. Sham geht inzwischen zur Schule, ihre Cousins sind glücklich im Kindergarten — genauso wie Shams kleine Schwester Salam.

Anwaltssuche und -besuche, Jobcenter, Wohnungssuche, überall ist die tatkräftige Frau dabei oder mittendrin, sie führt unzählige und oft auch sehr lange Telefonate. Mit Erfolg: Immer findet sie einen Betreuungsplatz für die Kinder und für die Familie von Shams Onkel sogar ein Zuhause. Genauso wie für eine iranische Flüchtlingsfamilie, der sie in der Gemeinschaftsunterkunft begegnet — und die sie ebenfalls unter ihre Fittiche nimmt. Mit vielen Briefen und Telefonaten erkämpft sie das Bleiberecht für die iranische Familie.

Viel wird zurückgelassen

Sie lernt so Menschen kennen, die nicht mal eben ein Land hinter sich gelassen haben, "sondern ihre Heimat, ihre Gärten, in denen sie Papayas und Mangos angebaut haben". Wie andere hier Äpfel oder Kirschen. "Was diese Menschen zurückgelassen haben, kann man gar nicht glauben", sagt Brigitte Gall.

Wie viele Stunden sie investiert, um ihnen zu helfen, will und kann sie gar nicht sagen. Alles erledigt sie auf eigene Faust, ohne einen Träger, der ihr hilft. Vor einem Jahr hat sie sich beim Zentrum Aktiver Bürger angemeldet, "da würde ich auch Hilfe bekommen, wenn ich Fragen habe". Es ist Brigitte Galls erstes Ehrenamt. "Ich war jahrelang alleinerziehend, neben dem Beruf ist nie Zeit gewesen", sagt sie. Jetzt schon — einzig die Malerei und das Modellieren, ihre Hobbys, leiden. Weil die Zeit fehlt.

Stattdessen sucht die Nürnbergerin weiter nach Arbeitsplätzen für die Väter der Familien. Jobs, wie die, die sie in Syrien oder im Iran hatten. Als Optiker oder wie Shams Papa, als Bus-, Straßenbahn-, oder U-Bahnfahrer. "Hier landen sie ja nur in einer Lagerhalle." Die meisten nehmen es klaglos hin, "sie müssen Geld verdienen, sagen sie immer".

Brigitte Gall wird nicht locker lassen, bis sie für alle den richtigen Platz gefunden hat. Ihren hat sie schon gefunden: an der Seite von Sham, ihrem Herzenskind.

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