Von Schale zu Schale

7.6.2002, 00:00 Uhr

Achim Göttert, in der Region bestens bekannt, improvisiert meisterlich am Saxofon, produziert sparsame und zugleich sättigende Tonräume. Huljet-Mann Sandor Toth am Schlagzeug macht aus der Kofferfabrik einen amerikanischen Beatschuppen der 50er Jahre, lässt Hipster tanzen und Katzen schleichen, und der spontan eingesprungene Bassist Robert Bruckner gibt sich ganz melodiös-verspielt. Die unvergleichliche Stimme von ruth weiss in rauchigem Sprechgesang, mal kehlig, mal klar, immer stark, fügt sich dieser Jazzcombo ein wie ein Instrument.

Von einem Leben zwischen Bebop und Beatnik, zwischen San Francisco und Chicago erzählt sie in ihrer Jazz-Poesie, von ihrem ersten Auftritt als Performerin, vom Leben außerhalb der Gesellschaft, das das Wesen des Beat prägt. Jedem im Publikum wird plausibel, warum Jack Kerouac, einer der Beat-Literatur-Heroen, mit dem ruth weiss zusammen Lyrik verfasste, sagte: „Die einzig wirklichen Menschen sind für mich die Verrückten, verrückt danach, zu leben, zu sprechen, die nie mals etwas Alltägliches sagen, sondern brennen, brennen . . .”

Beat, das war ein Vorläufer der Postmoderne; die Collagetechnik und die zahlreichen Sinnebenen, die ruth weiss eröffnet, wirken so modern, dass manch ein aktueller Modeliterat sich dahinter verstecken kann; die Hühnchen der Hip-Hop-Sprechgesang-Szene, die allzu sehr auf Hüftwackeln setzen, sowieso. Mit ihren 74 Jahren hat ruth weiss eine Tiefe und Lebensweisheit erreicht, die nicht durch Kurven wettzumachen ist. Ihre Worte treffen genau in die Mitte. Die Seelenhaftigkeit, Klarheit und Grazie schmerzen manchmal fast, die menschliche Großzügigkeit und Genauigkeit in der Beobachtung verblüffen.

Haiku-Rezitation

Ans Eingemachte aber geht es, wenn ruth weiss von ihren Eltern erzählt, wenn ihre dramatische Lebensgeschichte ins Spiel kommt. 1933 floh die Tochter eines jüdischen Journalisten mit der Familie aus Berlin und emigrierte nach Irrwegen und Gefahren in die USA. „Von Schale zu Schale schält sie die Zwiebel, die sie selbst ist”: Diese Worte aus einem Haiku beschreiben die Ausnahmekünstlerin ruth weiss exakt. Die deutsch-englische Rezitation dieser dreizeiligen, japanischen Vorbildern nachempfundenen Werke, bei der auf musikalische Untermalung verzichtet wurde, gehörte zu den innigsten, tiefsten Momenten des grandiosen Abends in der erfreulich gut besuchten Bagaasch. Keine Frage, das Knistern der Mischung aus Word-Jazz und Impro-Musik ist auch ein Erlebnis. Aber ruth weiss pur ist noch besser. CLAUDIA SCHULLER