Der Blick eines Kindes

22.11.2005, 00:00 Uhr
Der Blick eines Kindes

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Seinen jetzt erschienenen Kindheitserinnerungen hat Godehard Schramm ein Zitat von Hans Blumenberg vorangestellt: „Einseitigkeit ist das Schicksal aller Wahrnehmung.“ Das ist zu lesen als eine Art selbst gewährte Vorab-Absolution für die Egozentrik und Parteilichkeit des darauf folgenden Textes. Letztlich bastelte sich der Autor eine Geschichte seiner frühen und frühesten Jahre, die trefflich in sein heutiges katholisch-konservatives Weltbild passt.

Erzählt wird vom Alltag einer Kleinbürgerfamilie in den muffigen 50er Jahren. Der Vater, „Volksschullehrer“ im mittelfränkischen Örtchen Thalmässing, ist ein latent unzufriedener Mann, sentimental und gleichzeitig cholerisch. In dessen Ehe mit einer Katholikin aus Konstanz am Bodensee gibt es häufig Spannungen. Nicht zuletzt, weil sich die Frau in der nüchtern-lutherischen Heimat ihres Gatten nur schwer eingewöhnen kann. Zwischen zwei offenbar höchst unterschiedlichen Temperamenten und familiären Traditionen steht der völlig verunsicherte Erzähler als Kind: anlehnungsbedürftig, permanent um Ausgleich und allseitige Anerkennung bemüht. Auch im außerhäuslichen Umfeld gelingt es ihm kaum Fuß zu fassen, weil der Beruf des Vaters immer wieder Ortswechsel erforderlich macht.

Das für die Entwicklung von Heimatgefühlen unabdingbare Kontinuum vermittelt dem Knaben Godehard fast ausschließlich die „Kirche“ seiner Mutter. Wenn der Erwachsene heute auf dieses Thema zu sprechen kommt, wird seine Diktion wie Zuckerwatte: süß, weich und irgendwie substanzlos. Was natürlich kein Indiz für geistige Unredlichkeit ist, aber vielleicht für gewisse Schwierigkeiten, über die Formeln und Sprachklischees herkömmlicher Glaubensbekenntnisse hinaus Inhalte zu vermitteln.

Hingegen kommen stets Farbe, Duft und Geschmack in Godehard Schramms assoziatives Erzählen, wenn er sich an ganz profane Dinge und Vorgänge in seinem kindlichen Leben erinnert. Die zwiespältigen Gefühle bei der Hausschlachtung und beim Verzehr der Metzelsuppe werden sogar für den eingefleischten Großstadtbewohner von heute nachvollziehbar. Nicht weniger plastisch ist die Schilderung all der ernsthaften und oft auch grausamen Spiele, mit deren Hilfe sich das Kind in einer ebenso faszinierenden wie erschreckenden Realität zu orientieren versucht.

Kritischer Beobachter

Überzeugend dargestellt ist schließlich das Einzelgängertum, das dem Ich-Erzähler zunächst aufgezwungen wird, an dem er aber nach und nach Gefallen zu finden beginnt. So entwickelt er sich in jugendlichem Alter zum kritischen Beobachter und schafft damit die Grundlagen für die spätere Schriftstellerlaufbahn.

Gerade diese in jeder Zeile spürbare persönliche Betroffenheit ist die Stärke des neuen Buches. Es ist das Spannendste und Stimmigste, was Schramm in letzter Zeit geschrieben hat. BERND ZACHOW

Godehard Schramm: Mein Königreich war ein Apfelbaum, Verlag Sankt Michaelsbund, 267 Seiten, 19,90 Euro.