Von Glaser bis Glamour

2.6.2019, 17:53 Uhr
Von Glaser bis Glamour

Sandsteinhäuser der Jahrhundertwende und Nachkriegshäuser wechseln sich ab, wie so oft in der Südstadt. Sogar einige Bäume säumen die Straße, in der sich einige interessante Geschäfte und Institutionen eingenischt haben.

Ein lindgrüner Opel Rekord, Baujahr 1956, und ein weißer Opel Kadett von 1968 stehen im Schaufenster des Autohauses Eichelsdörfer. "Es ist ein kleines familiengeführtes Autohaus, wie es sie nicht mehr viele in der Stadt gibt", sagt Christine Eichelsdörfer. Bereits 1929 hatten die Brüder Willy & Josef Eichelsdörfer in der Paradiesstraße Motorräder hergestellt. Kfz-Meister Peter Eichelsdörfer übernahm die Firma in dritter Generation, die in den 1960er Jahren in ein Autohaus mit Werkstatt umgewandelt und in die Bogenstraße 10 verlegt wurde.

Peter Eichelsdörfer, sein Sohn Paul, der mit 23 Jahren auch schon Kfz-Meister ist, und Mechaniker Jaroslaw Kohler reparieren Autos aller Marken und verkaufen im Kundenauftrag Gebrauchtwägen. Auch in der Freizeit sind die Eichelsdörfers Motorfans: Vater und Sohn begeistern sich für Oldtimer und fahren gerne Motorrad. Das hat schließlich Familientradition!

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Eine andere Werkstatt befindet sich nur wenige Schritte entfernt. Ins Fenster geschliffene Motive am Werkstatteingang weisen auf die Kunstfertigkeit des Glasermeisters hin. Michael Bauch ist überdies auch Fensterbauermeister, Glas- und Porzellanmaler, Glasschleifer und Glasätzer.

Zunächst führt seine Frau Myroslava durch das Treppenhaus. Sie öffnet das Fenster und man blickt auf eine kleine grüne Hinterhofoase. Die Frau des Glasermeisters hat zwei Fabrikdächer begrünt. Neben einer weinumrankten Laube gedeihen Rosen und verschiedene Küchenkräuter. Weiter oben wachsen sogar Aprikosen-, Apfel-, und Kirschbäume. Auch einige Hühner leben hier.

Je komplexer, desto besser

Bereits als kleiner Junge hatte sich Michael Bauch für die Glaserwerkstatt seines Vaters begeistert, die schon sein Großvater geerbt hatte und die in Teilen an die hundert Jahre alt sein dürfte. Michael Bauch verglast Fassaden, passt Duschwände aus Glas an, schleift Glasränder, oder schraubt Solarpanele auf Dächer. Zur Hochform läuft er auf, wenn es schwierig wird. Je komplexer die Aufgabe, desto besser.

So hat er einen Hebekran konstruiert, der durch eine Zimmertür passt, mit dem er bis zu 500 Kilogramm schwere Lasten an schwer zugängliche Stellen hievt. Gerade arbeitet Michael Bauch an einem Bleifenster mit Flamingomotiv, Libellen und Seerose für das Treppenhaus eines Jugendstilhauses. Auch Kirchenfenster oder Butzenscheiben fertigt er.

An der Ecke zur Karl-Bröger-Straße stehen einige der rund 100 Gebrauchträder, die Mahmud Shien ständig in seinem Fahrradgeschäft "Saya" im Angebot hat. In seiner Heimat, dem Nordirak, hatte er Elektrotechnik studiert, arbeitete dann aber notgedrungen als Busfahrer, Hotelmanager, als Drucker und später als Fahrradmechaniker. Mitarbeiter Martin montiert neue Schaltzüge an ein Fahrrad, das sogleich ein Nachbar für sein Enkelkind abholt.

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© Foto: Maria Inoue-Krätzler

Weiter vorne öffnet das italienische Restaurant "Da Lucio". Der Wirt kocht Rigatoni all’ Amatriciana, das Tagesgericht. Schwarz-Weiß-Fotos von Sportlergrößen wie AC-Milan-Spieler Gianni Rivera oder Radsportlegende Fausto Coppi hängen an der Wand hinter der gut sortierten Bar. Darunter befindet sich auch das Porträt des jungen Lucio Bramato. "In meiner Jugend war ich ein guter Mittelstreckler", sagt er stolz, weshalb er es als sehr gerechtfertigt findet, sich in die Galerie der italienischen Sportlergrößen einzureihen.

Ein Mikrophon hängt am Tresen – nicht nur zu Dekorationszwecken. Am Abend singt der Wirt ab und an Lieder italienischer Cantautori, wie Francesco de Gregori, Lucio Dalla, oder Fabrizio de André. "So schaffe ich es, die Leute spätabends aus dem Lokal zu bekommen. Schließlich möchte ich auch irgendwann schlafen!", sagt er und lacht.

Abends schließt Thomas Heber die Türe zum "Paradies" auf, der einzigen Travestiebühne in Bayern. Heber richtet die Bühnenbeleuchtung aus. Die ersten Künstler trudeln ein. Chris aus Berlin, Baby Bubble aus München, Cazal aus Hamburg und Renata Granada aus Gran Canaria. Man begrüßt sich. Küsschen links, Küsschen rechts. "Wir sind wie eine Familie!" sagt Thomas Heber. "Auch die Darsteller kennen sich alle." Wenn sie ein Engagement im "Paradies" haben, wohnen sie in den Künstlerwohnungen über der Bühne.

Lieber auf statt hinter der Bühne

Renata Granada hat eine klassische Gesangsausbildung und liebt es, Opernarien wie "Nessun dorma" zu singen. Sehr charmant lächelt Renata mit vielen Augenaufschlägen. "Als 19-Jähriger hatte ich 1979 meinen ersten Auftritt im Paradies", erzählt Cazal. "Ich hatte eine Ausbildung zum Friseur, wollte aber nicht hinter, sondern auf der Bühne stehen."

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In der Garderobe wird es still. Die Künstler sitzen vor beleuchteten Spiegeln, die Schminkutensilien vor sich. "Bei Frauen reicht oft eine getönte Tagescreme. Wir dagegen müssen uns intensiv um die Grundierung bemühen", sagt Cazal. Mit größter Sorgfalt wird gepudert, werden Lidstriche gezogen, Konturen betont, Farbe eingesetzt, Wimpern getuscht. Große gelockte Perücken hängen über den Spiegeln, die Kostüme sind im Nebenraum aufgereiht.

Vollzieht sich beim Schminken die Verwandlung in die Bühnenrolle? "In dieser Zeit meditiere ich. Ich stelle mich auf meine Rolle ein", verrät Tekin später. "Wirklich in meiner Rolle bin ich erst, wenn ich im Kostüm auf der Bühne stehe!", sagt Cazal. Nach zwei Stunden in der Garderobe sind aus Jungs in Jeans zauberhafte "Golden Girls" geworden.

Vorwiegend Frauen lassen sich im "Paradies" in eine andere Welt entführen. "Besucher kommen aus ganz Deutschland. Amerikanische Gäste besuchen uns seit Jahren. Sie gehen tagsüber auf den Christkindlesmarkt und sehen sich abends unsere Shows an", berichtet Thomas Heber.

Große Schuld- und Schamgefühle

Nicht mit fantasievollen Traumwelten, sondern mit einem bitteren Teil unserer Realität befasst sich Daniela Dahm. Vor 25 Jahren hat die Sozialpädagogin gemeinsam mit Christine Wagner den Verein Lilith gegründet. Heute arbeiten 32 Frauen bei Lilith und helfen drogenabhängigen Frauen und deren Kindern.

"Die Scham- und Schuldgefühle unserer Klientinnen sind sehr groß", erklärt Dahm. In der Bogenstraße 30 finden sie Beratung, Gespräche, ein Frauencafe, Kinderbetreuung, Kleidung, Nahrung und ärztlichen Rat. 700 Frauen nutzen pro Jahr die Hilfe.

Daniela Dahm freut es, dass ehemals schwerst-abhängige Frauen jetzt clean sind und bei Lilith im Hausservice arbeiten. Sie sorgen für Sauberkeit im Haus, arbeiten im Frauencafé oder im Kleiderladen. "Das machen sie richtig gut! Dabei sind sie Vorbilder für Frauen, die erst am Anfang ihres Weges stehen." Auch Frauen, die noch nicht clean sind haben bei Lilith eine Chance.

Doch auch mit Rückschlägen müssen die Mitarbeiterinnen von Lilith fertig werden. "Es ist immer wieder schlimm, wenn wir erfahren, dass eine unserer Klientinnen an einer Überdosis stirbt." Im Alltag geht es aber darum, das Positive zu verstärken. Und da gibt es Einiges.

Was Daniela Dahm sich noch für ihre Arbeit wünscht? "Wir suchen eine Frauen- und eine Kinderärztin, die ehrenamtlich alle zwei Wochen im Arztzimmer unsere Klientinnen und deren Kinder betreuen". Vielleicht findet sich ja auf diesem Wege eine Ärztin, die sich engagieren mag.

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