12. November 1969: Kein Platz für Kinder

12.11.2019, 07:00 Uhr
12. November 1969: Kein Platz für Kinder

© Fischer

In Nürnberg besuchen zur Zeit 7.540 Buben und Mädchen die insgesamt nur 121 Kindergärten – doch noch höher ist die Zahl derer, die auf einen Platz in der Kindergemeinschaft warten. Den geplagten Müttern bleibt nichts anderes übrig, als auszuharren bis zur Zeit der Volksschulreife.

Es gibt einfach zu wenig Kindergärten, zu wenig Betreuerinnen, zu wenig Geld für die Kleinkindererziehung. Es mangelt an Initiative, nicht jedoch an Vorurteilen. Denn zu allen negativen Vorzeichen kommt noch als weiterer Hemmschuh einer positiven Entwicklung hinzu, daß in weiten Bevölkerungskreisen noch immer dem Leitbild vom Heimchen am Herd gehuldigt wird: „Die bessere Mutter paßt auf ihre Kinder selbst auf.“ Das ist auch die Gruppe, die im Kindergarten lediglich eine Bewahranstalt mit Beschäftigungstherapie sieht.

Viele Eltern aber wehren sich dagegen und sie werden von den Pädagogen unterstützt. Ihnen liegt daran, daß sich ihr Mädchen oder Junge an eine kleinere Gruppe von Altersgenossen gewöhnt, daß sie lernen, sich der Gemeinschaft unterzuordnen, damit ihnen später der Übergang zur Schule nicht so schwer fällt.

12. November 1969: Kein Platz für Kinder

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Ihre Kinder haben zumindest den Schimmer einer Chance, wenigstens ein halbes Jahr vor Schulbeginn aufgenommen zu werden. Oberrechtsrat Heinz Mösonef, Leiter des Jugendamtes, kommt diesen Eltern nach internen Richtlinien entgegen. Allerdings müssen sie sofort zurückstehen, wenn ein Kind angemeldet wird, dessen Eltern aus wirtschaftlicher Not arbeiten müssen. Soziale Gründe sind immer ausschlaggebend.

Emanzipation steckt in den Kinderschuhen

Auf völlig verlorenem Posten stehen die Mütter, die in den Beruf zurückkehren wollen aus reiner Lust und Laune. Ihnen wird das schlechte Gewissen quasi eingeimpft: „Berufstätige Mütter vernachlässigen ihre Kinder“, und zwangsläufig können sie auch nicht auf einen Kindergartenplatz hoffen. Hier steckt die Emanzipation noch in den Kinderschuhen. Erst wenn dieses Vorurteil abgebaut ist, wird vielleicht auch die Forderung nach mehr Kindergärten etwas lautstarker ausgesprochen.

Doch warum gibt es eigentlich zu wenig Plätze? Niemand scheint dafür zuständig zu sein. Der Anspruch des Kindes auf Erziehung ist im Jugendwohlfahrtsgesetz verankert. Doch so recht paßt dieser Grundsatz nicht auf die Kindergärten: die Einrichtung ist freiwillig, Vorrang haben bei dieser Aufgabe die freien Verbände. Nehmen die Gemeinden die moralische Verpflichtung auf sich, so haben sie auch für das Geld zu sorgen – freiwillig.

Und da sich Kindergärten merkwürdigerweise nicht rentieren dürfen, kann man das geringe Engagement der Kommunen für diesen Zuschußbetrieb verstehen. Auch von seiten der Kirchenbehörden Klagen zu hören, daß die Kindergärten die Finanzen auffressen. Von den evangelischen Trägern werden zur Zeit in Nürnberg 43 und von den katholischen 31 Kindergärten betreut, doch sie werden schon lange nicht mehr den Anforderungen und der Nachfrage gerecht. Dazu kommen lediglich noch sieben Kindergärten der freien Verbände und sechs, die von Industriebetrieben unterhalten werden. Rein private Institutionen gibt es in Nürnberg nur vier, einschließlich der Einrichtung der APO.

Das Jugendamt bemüht sich redlich, die Engpässe zu beseitigen. Es stellt laufend Bauanträge und strapaziert die Prioritätenliste. Doch gegen den großen Rotstift ist kein Kraut gewachsen. Ihm fallen letzten Endes alle Erwartungen zum Opfer, denn ein neuer Kindergarten kostet 400.000 DM.

Es wäre an der Zeit, für die Ermessungsfrage eine zuständige Behörde zu finden, denn nur dann hat der Kindergarten eine Chance, nicht nur den sozialpolitischen, sondern auch den gesellschaftspolitischen Aufgaben gerecht zu werden. Daß das möglich ist, beweist das Beispiel Schulkindergarten (in Nürnberg gibt es zur Zeit fünf mit insgesamt 75 Plätzen). In einigen Bundesländern – aber leider nicht in Bayern – wurden sie aus der Kindergarten-Regelung herausgenommen und der Schulbehörde unterstellt. In diesen Ländern ist seitdem eine konsequente Entwicklung gewährleistet, allerdings auch nur auf diesem einen Gebiet.

Beim Jugendamt entschuldigt man die Kindergarten-Misere nicht nur mit fehlendem Geld, sondern auch mit dem Mangel an Kindergärtnerinnen. 1968 verließen 53 ausgebildete Kindergärtnerinnen die Fachschule und 13 Jugendleiterinnen die Höhere Fachschule für Sozialpädagogik. Über mangelnde Nachfrage kann man sich am Institut nicht beklagen. Von den 127 Bewerberinnen konnten in diesem Jahr nur 75 aufgenommen werden. Dagegen die Zahl der Betreuerinnen, die zur Zeit von der Stadt in den Kindergärten angestellt sind: 13 Jugendleiterinnen, 48 Kindergärtnerinnen und drei Kinderpflegerinnen.

Wenn die Stadt auch nicht die Richtlinien mit Mindestbestimmungen für Kindergärten – vom Kultusministerium erlassen – in allen Punkten befolgen kann (unter anderem zwei Quadratmeter „Lebensraum“ pro Kind), so darf sie dennoch stolz auf einige Einrichtungen sein, zum Beispiel auf die Kindergärten im Stadtpark und an der Elsa-Brandström-Straße. Leider gibt es auch die Schattenseite. Der Kindergarten an der Adam-Klein-Straße jedenfalls ist für die Betreuerinnen fast eine Zumutung. In einem kleinen Raum müssen sie über 45 Kinder „beaufsichtigen“, der asphaltierte Hinterhof muß als Platz an der Sonne herhalten. Und auch hier: die Anmeldungen reißen nicht ab. Hoffnungslose Aussichten für viele.

Wenn in Nürnberg das Kindergartenproblem nicht völlig stagnieren soll, muß von privater Seite etwas geschehen. „Was wir sehr begrüßen würden“, betont Heinz Mösonef. Die Stadt hat längst eingesehen, daß sie den Bedarf an Plätzen nie selbst decken kann. Auch wird die Forderung der Frau „Zurück in den Beruf“ niemals schwächer, sondern stärker werden, nachdem immer mehr Psychologen die Behauptung – meist der Tradition wegen – entkräften, daß die Berufstätigkeit der Mutter den Kindern schadet.

„Sobald ein Kind das Kindergartenalter erreicht hat, ist die geregelte Teilzeitarbeit der Mutter zu bejahen, heißt es immer wieder“, klagt eine junge Frau, „das ist doch alles illusorisch, mein Kind wird ja doch nie aufgenommen.“ Einige Nürnberger Firmen haben bereits die Initiative ergriffen und eigene Kindergärten gebaut, und sie haben durchschlagenden Erfolg damit: bestens betreute Kinder und zuverlässigste weibliche Arbeitskräfte. Hoffnung auf eine bessere Kindergarten-Zukunft machen auch die Baugesellschaften. Architekt Professor Gerhard Dittrich: „Bei unseren großen Bauprojekten sind Kindergärten im sogenannten Service-Haus bereits eingeplant, zum Beispiel jetzt in Wetzendorf.“

Auch die Baugenossenschaft Gartenstadt greift das Problem auf. Bei ihrem Projekt in Langwasser hat der Kindergarten seinen festen Platz. Vielleicht machen diese Beispiele – es sind bis jetzt die einzigen – Schule. So daß in Zukunft bei jeder großen Bauplanung nicht nur für den sicheren Platz für das Auto, sondern auch für den der Kinder gesorgt wird.

Die Stadt schließlich könnte mit ihren bescheidenen Möglichkeiten für Chancengleichheit sorgen, wenn sie in einigen ihrer Kindergärten nur halbtags Buben und Mädchen aufnimmt. Dann könnten doppelt so viele Kinder wenigstens jeweils für die Vormittags- und Nachmittagsstunden aufgenommen werden.

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